15.06.2023 - Das Hamburger Straßenmagazin Hinz&Kunzt ist Best-in-Show-Sieger beim MAX-Award 2023. Dessen Kampagne "The Homeless Gallery" erhielt bei der öffentlichen Abstimmung im Internet mit großem Abstand die meisten Stimmen. Jörn Sturm, Geschäftsführer des gemeinnützigen Verlags, der Hinz&Kunzt herausgibt, über die Hintergründe der erfolgreichen Dialog-Kampagne zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit in Hamburg.
von Christian Gehl
Herr Sturm, wer hatte die Idee den Glamour-Markt Kunst mit Bildern von Armut und Obdachlosigkeit zu verbinden?
Das waren drei junge Frauen von den Hamburger Werbeagenturen Mantikor
und Philipp und Keuntje
, die darin ein Konzept sahen, um das 30-jährige Jubiläum von Hinz&Kunzt
zu begehen. Der Kunstmarkt erzielt gerade in Krisenzeiten wahnsinnig hohe Preise und an diesem Boom wollten sie Obdach- und Wohnungslose beteiligen. Allein das Auktionshaus Christie's erzielte im vergangenen Jahr einen Rekordumsatz von 8,4 Milliarden Dollar. Die Idee zu der Kunstaktion für Hinz&Kunzt kam im vergangenen September auf und schon damals sollte dabei KI ins Spiel kommen. Dass dies Thema dank ChatGTP jetzt so boomen würde, hat keiner geahnt, als wir das Projekt begonnen haben. Ein glücklicher Zufall, meine ich, denn es ist gut möglich, dass wir mit der Ausstellung gerade zur richtigen Zeit gekommen sind und also auch ein wenig vom Thema KI profitiert haben, was die Resonanz in der Bevölkerung angeht. Wir haben uns natürlich auch mit der Kritik an KI auseinandergesetzt, uns da aber der Position von Kunsthallenchef Alexander Klar angeschlossen, der KI hier als Konzeptkunst spannend findet.
Die Kunstwerke für die Wanderausstellung sind am Computer entstanden. Wie weit waren die 30 Menschen, die auf den Bildern zu sehen sind, an dem Schaffensprozess beteiligt?
Einige von ihnen waren zu dem Zeitpunkt obdachlos, als die Bilder produziert wurden, aber nicht alle. Es waren auch Verstorbene darunter, denn wir wollten VerkäuferInnen aus den vergangenen 30 Jahren zu Wort kommen lassen. Zu allen hatten wir eine enge Verbindung, weil sie jahrelang als Hinz&KünztlerInnen unsere Zeitschrift verkauften oder immer noch tun. Mit einigen saßen wir zwei bis drei Stunden vor dem Computer und sie erzählten uns ihre Geschichten, nannten wichtige Begriffe wie Baum, Park, Wasser, dunkler Himmel. Ausgewählte Begriffe aus den Gesprächen wurden von der KI dann in dem Bild verarbeitet. Und von den Menschen, die nicht mit uns am Computer sitzen konnten, die wir aber bereits ausgewählt hatten, fügten wir ein, was wir von ihnen über die Jahre kennengelernt hatten.
Entwickelt wurde die Idee zu "The Homeless Gallery" im September 2022 von drei jungen MitarbeiterInnen der Kreativagenturen Mantikor und Philipp und Keuntje. Lena-Kasmira Schueler (Mantikor) sowie Maren Janowsky und Anna Schorpp (PUK Berlin) wollten zum 30-jährigen Jubiläum von Hinz&Kunzt eine dialoggetriebene Verbindung zwischen den ärmsten Menschen in Hamburg und dem weltweit boomenden Kunstmarkt schaffen. Dass sie dafür ausgerechnet zu KI als Bindemittel griffen, Monate vor dem Launch von ChatGTP, ist natürlich feinstes Trendscout-Feeling, überzeugte aber auch den Auftraggeber sofort. Insgesamt arbeiteten an der Kampagne schlussendlich über 50 Menschen mit. Erstellt wurden nicht nur die Kunstwerke selbst, sondern auch ein Ausstellungskatalog, eine umfangreiche Merchandising-Palette sowie ein Mediaplan, der von DooH-Flächen über Print und PR bis Social Media reichte. Mediaplus zeichnete für die Mediaplanung verantwortlich, Ströer stellte die Outdoor-Standorte zur Verfügung, Kai-Uwe Gundlach machte die Fotos während der gesamten Projektdauer, dazu kamen die Agenturen Hastings und Hooked Audio für Sound und Radiospot. FischerAppelt übernahm die PR-Arbeit. Florian Künstler nahm den Song zu der Kampagne auf. Die organisatorische Leitung übernahm Lara von Kroge, Account Direktorin bei Philipp und Keuntje. Falk Poetz, Geschäftsführer Kreation bei Mantikor, hatte die Gesamtleitung, in enger Zusammenarbeit mit Philip Bolland, Jessica Philipp und Jonas Keller, KreativdirektorInnen bei Philipp und Keuntje.
Wie haben die Hinz&KünztlerInnen die entstandenen Bilder aufgenommen?
Die meisten waren begeistert, ihre Geschichte versinnbildlicht zu sehen. Manchmal ist es auch ein Porträt vor einem selbstgewählten Hintergrund. Geändert wurde die Erstfassung dennoch fast immer. Hier noch ein Begriff mehr oder prägnanter, da ein Detail weg, dort eine andere Farbe. So haben sich die aktuell und ehemals Obdachlosen mit den KI-Experten aus den Agenturen schließlich über eine Bildversion verständigt, mit der die eigentlichen UrheberInnen der Aktion, nämlich die Hinz&KünztlerInnen, schließlich voll und ganz einverstanden waren.
Und wie ist es danach weitergegangen?
Die computergenerierten Bilder wurden auf Leinwand geplottet und in einer Größe von 1,20 Meter mal einem Meter gerahmt. Wir haben dann zuerst eine Vernissage unter einer S-Bahn-Brücke gemacht, für die der Direktor der Hamburger Kunsthalle, Prof. Dr. Alexander Klar, die Eröffnungsrede gehalten hat. Danach wurden die Bilder an unterschiedlichen Orten in der Stadt gezeigt, immer begleitet von Terminankündigungen auf Social Media. Wir sind insgesamt 13 Mal mit der Ausstellung umgezogen, viele Leute haben uns auch angerufen und gefragt, wo die Galerie denn das nächste Mal zu sehen sein würde. Zwei Wochen lang waren wir so in etwa unterwegs, unter anderem auch im Volksparkstadion und im Stadion am Millerntor. Der HSV und der FC St. Pauli hatten uns eingeladen, was natürlich super war, weil uns dies Gelegenheit gab, die Bilder richtig vielen Leuten zu zeigen. Insgesamt haben wohl an die 100.000 Menschen die Bilder gesehen.
Wie kamen die Ausstellung und Ihre Aktion gegen Obdachlosigkeit denn in den Medien an?
Weltweit kam "The Homeless Gallery" 226 Mal in Medienberichten vor, was zu einer Bruttoreichweite von 73,9 Millionen Menschen geführt hat. Am häufigsten machten Online-Medien unsere Aktion zum Thema, die dpa berichtete und auch der lokale Fernsehsender Hamburg 1. Neben überregionalen Zeitungen wie der F.A.Z. und Die Zeit berichteten auch Medien in den USA und Australien über die Ausstellung. Es war wirklich in jeder Hinsicht eine perfekte Aktion!
Und sie ist nicht zu Ende. Im Herbst wollen Sie die Bilder bei Christie's versteigern lassen?
Ja. Wir hoffen, dass es klappt. Vorher stellen wir sie aber noch einmal in Hamburg aus. Hinz&Kunzt wird ja im November 30 Jahre alt. Auch ein Konzert veranstalten wir im Herbst. Stattfinden wird es in der bekannten Hamburger Location Übel&Gefährlich. Wer auftritt, dürfen wir aber leider noch nicht sagen.
Was wird mit dem Erlös aus der Auktion passieren?
Den wollen wir dafür einsetzen, um unsere Magazine für die Verkäufer billiger zu machen. Oder, falls sie genügend Geld einbringt, geben wir sie auch in bestimmten Kontingenten kostenlos in den Vertrieb. Während die Ausstellung lief, hätten wir sicher auch schon ein Drittel der Bilder direkt verkaufen können. Also sind wir zuversichtlich, dass die Auktion ein Erfolg wird.
Können Sie das kurz näher erklären: Die VerkäuferInnen kaufen also die Hinz&Kunzt-Ausgaben?
Ja, anders als zum Beispiel in München, wo die dortige Straßenzeitschrift B.I.S.S. mit einem Angestelltenmodell arbeitet, geben wir unser Magazin für 1,10 Euro an die Hinz&KünztlerInnen, wie wir sie nennen, ab. Sie reichen es dann für 2,20 Euro weiter. Wir behandeln die Menschen, die unsere Zeitschrift verkaufen, als Partner, und hoffen natürlich, dass ihnen dies hilft. Manche VerkäuferInnen nehmen uns zehn Hefte pro Ausgabe ab, manche kommen zwei Mal im Monat und nehmen 60 Hefte mit, andere nur vier. Zum Start bekommt jeder und jede zehn Ausgaben geschenkt. Im Moment haben wir 530 VerkäuferInnen, unsere Auflage beträgt 50.000 Stück, im Dezember bis zu 90.000 Stück. Wir verkaufen in der gesamten Metropolregion, die reicht bis zu 75 Kilometer weit weg von Hamburg. Eine Besonderheit ist auch unser Vertriebsmodell. Unsere VerkäuferInnen gehen nur in seltenen Ausnahmefällen in die Gastronomie, 99 Prozent stehen vor Supermärkten und Drogerien. Diese festen Standplätze, die wir vorher mit der Filialleitung abgesprochen haben, geben den Hinz&KünztlerInnen die Chance, Kontakte zu den wiederkehrenden Menschen, die hier einkaufen, aufzubauen. Dadurch entstehen soziale Kontakte und Brücken zwischen Personen, die im Alltag sonst nichts miteinander zu tun hätten. Vereinzelt sind dadurch sogar schon Wohnmöglichkeiten vermittelt worden.
An Bekanntheit dürfte es Ihrer Zeitschrift also nicht fehlen?
Nein, tatsächlich. Deshalb haben wir die Aktion auch nicht gemacht. 90 Prozent der HamburgerInnen kennen uns. Aber "The Homeless Gallery" hat auf unser Image eingezahlt als jemand, der sich aktiv mit Obdachlosen beschäftigt, sich um sie kümmert, Lobbyarbeit leistet und so ihre Leben zu verbessern sucht. Die Aktion hat viel dafür getan, um auf die schreckliche Situation der viel zu vielen Obdachlosen in Hamburg aufmerksam zu machen. Hoffentlich kaufen jetzt wieder mehr Menschen ein Straßenmagazin, und sind solidarisch, wenn sie jemanden sehen, der auf der Straße lebt.
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