Wie bringt man zwei so scheinbar unterschiedliche Dinge wie Kreation und Automatisierung unter einen Hut - und in einen Prozess in der Markenarbeit? Das Beispiel der Automatisierung in der Anzeigenschaltung hat massive Probleme mit automatisierten Vorgängen offenbart (vgl. "Automatisierte Werbeschaltung: Wenn Ihre Werbung sich verläuft", ONEtoONE 7-8/2021). Wenn schon bei so vermeintlich einfachen Prozessen wie der Anzeigenschaltung die Automatisierung schiefläuft, wie soll es dann in der Kreation funktionieren?
Dazu muss man wissen, wie Markenarbeit funktioniert und an welchen Stellen Maschinen Entscheidungen treffen können. Diese Entscheidungen werden auf unterschiedlichen Ebenen mit verschiedenen Konsequenzen getroffen:
- Was ist alles möglich, wenn der Werkzeugkasten, der Agenturen und Markenverantwortlichen zur Verfügung steht, förmlich "explodiert"?: Wenn ich beispielsweise eine Webseite erstelle, kann ich dafür eine Million Layouts generieren.
- Inwieweit macht das die derzeitigen Jobs in Unternehmen und Agenturen überflüssig?
- Was ist sinnvoll und wo verbessert es die Arbeit?
"Maschinen sind nicht eitel, müde etc. Sie kennen nur richtig oder falsch. Dies ist überall da anwendbar, wo der Mensch zu fehlbar ist oder aus Opportunität Entscheidungen trifft", erklärt
Stefan Mohr
, COO der Digital-Fullservice-Agentur
Argonauten
.
"Wenn man ein Markengerüst erstellt hat und von Tools weiter tragen lässt, sorgt die Null-Eins-Mentalität von Algorithmen vielleicht sogar für mehr Konsistenz. Denn selbst wenn ein Brandframework klar beschrieben ist, kommt immer ein Mensch, der es anders interpretiert", skizziert er.
Mehr Konsistenz durch weniger Interpretationsspielraum
Auf dem Weg dahin, dies zu definieren, wird es spannend. Einer Marke Markenwerte mitgeben (Werte, Tonalität etc.) würde er (jetzt noch) nicht Algorithmen überlassen. Da komme man schnell auf eine "Kleinster-gemeinsamer-Nenner-Logik", die irgendwie alles, aber auch gar nichts aussagt.
"Und Markenarbeit macht ja auch das Scharfkantige aus. Und das ermittelt man nur im Dialog mit Menschen", betont Mohr.
So richtig weit hat sich das Thema Automatisierung der Markenarbeit noch nicht entwickelt, nicht zuletzt, weil man noch nicht wirklich weiß, was dabei herauskommt, wenn man alles Maschinen überlässt.
"Das Vertrauen in die Menschen, die dieses Regelwerk aufsetzen und dafür die richtigen Leute haben, ist so noch nicht gegeben. Momentan werden Algorithmen oft noch von Menschen gefüttert, die nicht genau wissen, was das für Auswirkungen haben kann", bremst er die Erwartungen. Und nur, weil es Dinge gibt, heißt es nicht, dass sie schon genutzt werden: Der Mensch ist da recht träge. Was dagegen schon gut funktioniert, sind A-/B-Testings mit vorgefertigten Botschaften, die im Live-Betrieb getestet werden. Das ist mittlerweile Standard in Digitalagenturen.
Die Maschinen die A-/B-Testvarianten überlegen zu lassen, hat er aber noch nicht erlebt.
"Am Ende des Tages weiß man auch nicht, ob Maschinen-gefällte Entscheidungen den Auftraggebern gefallen. Das sind ja alles Menschen. Und jeder, der schon mal auf ein Briefing gearbeitet hat, weiß, dass das, was darin steht und der Auftraggeber meint, unter Umständen sehr weit auseinander gehen kann, woran man sich in mehreren Iterationen heranrobben muss. Eine Maschine nimmt dieses Briefing aber 1:1", so Mohr.
Die Arbeit am Markenkern gestaltet sich künftig offener: Sind Schnittstellen vorhanden, können Agenturen und betreffende Unternehmensabteilungen aus einem digitalen
Bild: HighText Verlag
Mit ihren KundInnen diskutieren sie diese Fragen auch. Die Argonauten arbeiten oft für HerstellerInnen erklärungsbedürftiger Produkte und versuchen, Daten der KundInnen, mitunter reines "Ingenieurs-Kauderwelsch", mit Bedürfnissen von echten Menschen zu matchen. Mohr: "Hier leisten wir eine Art Übersetzungsarbeit."
Viel Arbeit, die nie den Weg zurück in die Guideline findet
Kai Ebert
, Chief Strategy Officer bei der Digitalagentur
Fork Unstable Media
, beschäftigt sich mit seinem Team schon seit zwei Jahren mit dem Thema Marken-Automatisierung. Im Zuge von Website-Relaunches fällt klassische Markenarbeit an. Die Markenentwicklung auf der digitalen Ebene basiert in der Regel auf einem klassischen Corporate-Design-Guide, der so umfänglich "erschlagen" wird, wie es das Produkt an dem Touchpoint benötigt.
"Dabei haben wir festgestellt, dass viel Arbeit entstanden ist, die klassische Markenarbeit ist, aber nie den Weg zurückgefunden hat in die Guideline", schildert er und findet das schade.
"Denn je größer das Unternehmen, desto mehr Agenturen hat es und desto mehr Arbeit wird doppelt gemacht, was nicht notwendig wäre."
Sein Vorschlag: Erkenntnisse aus einer Ebene, beispielsweise dem Design, auf die nächste zu heben. Die Agenturgruppe um Fork Unstable Media hat das an ihren eigenen Marken probiert und dazu eine Multibrand-Plattform gebaut mit den einzelnen "Marken-Persönlichkeiten" im Hintergrund.
Die Vision: BrandmanagerInnen kann in Zukunft auf ein Interface zugreifen, mit dem sie den Markenkern bearbeiten können mit Einfluss auf alle möglichen Touchpoints (Webseiten, POS, Apps etc.).
Seine Hoffnung:
"Wenn man es schafft, Themen auf der Markenebene beeinflussbar zu machen, kann man die derzeit vorherrschenden Schnittstellenbrüche an vielen Stellen vermeiden."
In Konsequenz wird der Markenkern also ein schnittstellenbasiertes Objekt, das "beeinflussbar" ist. BrandmanagerInnen bedienen sozusagen Stellschrauben und müssen nicht jedes Mal von vorne beginnen und Corporate Design-Guidelines neu schreiben, überarbeiten oder irgendwo hochladen.
"Der Brand-Governance- Prozess wird auf diese Weise deutlich entschlackt und effizienter gestaltet - schlussendlich ernsthaft digitalisiert", skizziert Ebert.
Das hat erst einmal gar nicht so viel mit Algorithmen zu tun. Die kommen erst im zweiten Schritt, denn die Daten, die über Martech gesammelt werden, sind hier extrem hilfreich und zeigen, in welche Richtung man die Stellschrauben bewegen und die Marke beeinflussen kann. Eine zentrale Frage dabei ist die Rolle der beteiligten MitarbeiterInnen verschiedener Unternehmensabteilungen, formuliert er:
"Wer arbeitet mit Markenassets, und wie befähigen wir diese KollegInnen, damit besser arbeiten zu können?"
Die Automatisierung von Markenarbeit als Heilsversprechen teilt er aber "in keinster Weise". Es geht ihm darum, operative, produktionsnahe Arbeit durch Automatisierung zu reduzieren, um mehr Kapazitäten für die eigentliche Arbeit zu schaffen:
"sich Gedanken machen können, wofür die Marke eigentlich steht". Den empathischen Aspekt von Markenarbeit kann man nicht einem Algorithmus überlassen, pflichtet Ebert seinem Branchenkollegen Mohr bei. Denn der Algorithmus agiert auf Basis einer Historie - je nachdem, wie dieser trainiert ist, aber das passiert immer nur nach hinten blickend datenbasiert. Zu Kontextbrüchen, wie das menschliche Gehirn es kann, ist er nicht fähig.
einzelnen Brand-Token-Werte kann direkt Einfluss auf verschiedenste Gestaltungselemente am eigentlichen Touchpoint genommen werden. Sobald nicht nur ein, sondern verschiedenste Plattformen, Touchpoints, ja das gesamte digitale Ökosystem daran angeschlossen ist, kann an zentraler Stelle die Marke nicht mehr nur dokumentiert, sondern aktiv mit unmittelbarem Effekt weiterentwickelt werden.
Bild: HighText Verlag
Chart 2
Künftige Kernaufgabe von Agenturen: Kurartierung von Optionen
Der Weg führt künftig von Martech zu Brandtech, wie Kai Ebert und Stefan Mohr mit ihrer Branchenkollegin und SinnerSchrader- Chefin Kristina Bonitz auf der diesjährigen virtuellen Dmexco erzählt hatten. Mohr greift den A-/B-Gedanken wieder auf:
"Wenn es vernünftige Schnittstellen gäbe, könnte man aus einem digitalen Brandbook viele Assets herauspurzeln lassen, die man dann nur noch kuratiert."
Das Szenario für die Markenarbeit sähe dann ungefähr so aus: In einer fernen Zukunft gibt es ein großes, digitales Brandbook, das man nicht mehr lesen muss, sondern bekommt für einen speziellen Zweck, beispielsweise den Einsatz in Social Media, Vorschläge von einer Anwendung, die aus diesem Brandbook heraus Assets erstellt. Als Agentur kuratiert man diese und entwickelt sie weiter als einen vorstellbaren Anwendungsfall, vgl. Chart, S.18 und 19.
Die Kuratierung von Optionen wird wichtiger, ist auch Kai Ebert sicher:
"Ein Junior kann dann schon in Teilen Aufgaben eines Creative Directors übernehmen, weil die unterstützenden Tools das in ein paar Jahren ermöglichen." Das Tätigkeitsfeld der Digitalen wandelt sich grundlegend:
"Man schubst weniger Pixel als früher und macht weniger Layouts als noch vor vier oder fünf Jahren. Stattdessen geht man schneller in den Browser und die Programmierung." Sogenannte Brand Tokens können dann über Variablen- Mappings verschiedenste Elemente einer Seite beeinflussen. Das gehe nicht unbedingt Richtung Low-Code-Entwicklung, aber Agenturen müssen sich ihre Workflows ganz genau anschauen, wie Übergabezeitpunkte von Konzeption, Design in die Entwicklung aussehen, betont er:
"Wo sind Brüche, wo kann mit Tools diese Augmentierung eingesetzt werden? Man muss dann nur noch etwas scribbeln, und per Bilderkennung werden die Elemente zusammengesetzt. Die operative Effizienz wird stark zunehmen. AirBnB hat es bereits vorgemacht." Der nächste größere Schritt werde sein, dass große Software-Anbieter diese Aspekte in ihre Lösungen adaptieren.
Aber worin genau bestehen künftige Aufgaben von Agenturen, wenn es auf die Zentrierung wichtigerer Dinge zuläuft? Kai Ebert:
"Die Hoffnung ist, dass Unternehmen künftig keine 200 Seiten- Styleguides verfassen, sondern einen digitalisierteren Markenkern schaffen als Grundlage, um Markenbilder weiter zu denken und zu entwickeln. Dieser Prozess wird perspektivisch agiler."
Wenn es vernünftige Schnittstellen gäbe, könnte man aus einem digitalen Brandbook viele Assets herauspurzeln lassen, die man dann nur noch kuratiert.
(Stefan Mohr, COO, Argonauten)
Bild: Argonauten
Schließlich gibt es viele Agenturen und Webseiten in einem solchen Kosmos, die irgendwie die Marke repräsentieren. Eigentlich hätte das Brandmanagement besseres zu tun, als die ganzen Insellösungen überwachen und bewerten zu müssen und in mühsamen Feedbackschleifen mit Agenturen zu einem zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. "Das würde Abläufe für alle vereinfachen, auch wenn das an manchen Stellen den Einfluss der RedakteurInnen einer Webseite oder von WebdesignerInnen einer Agentur verringert", schlussfolgert er.
Optionen der Künstlichen Intelligenz noch lange nicht ausgereizt
Seine Aufgaben als Dienstleister sieht er künftig stärker darin, parallel zur eigentlichen Konzeption und Implementierung Change Prozesse zu moderieren und als Agentur mit KundInnen zu reflektieren.
"Das kann nur funktionieren, wenn wir uns nicht in 1000 Details aufhalten müssen." Und auch die Optionen, die Künstliche Intelligenz in diesem Kosmos bietet, seien noch lange nicht ausgereizt, resümiert er:
"Es gibt spannende Anwendungen, jenseits dessen, was man gerade für KI hält. Diese werden auch die Kreation gehörig durcheinander wirbeln, fliegen aber oft noch unter dem Radar, wie beispielsweise das Thema Bildgenerierung. Tools wie Sequel von Runway geben einen ersten Eindruck, was dort gerade alles passiert." Aus Kosten-Nutzen-Betrachtung ist es nur eine Frage der Zeit, wann sich das durchsetzt, ist Stefan Mohr überzeugt. Aktuell ist der Ansatzpunkt für Tools und Algorithmen, damit man ihnen solch sensible Prozesse überlassen kann: Ausprobieren, machen und daraus lernen. Das wird für Agenturen der schwierigste Schritt, weiß Mohr:
"Hier braucht es von KundInnen Vorschussvertrauen."
Die großen Beratungshäuser versprechen gerade global agierenden KundInnen genau das: Gar nicht mehr in Markenarbeit zu denken, sondern ein Betriebssystem für ihre Marke in digitalen Zeiten zu bauen. Das ist schon vom Wording anders als die klassische Markenarbeit, die man früher gemacht hat. Auf dem ureigenen Feld der Agenturen wird von den Beratungen gewildert. Mohr sieht aber durchaus den positiven Aspekt:
"Hieraus entwickelt sich viel: Die Beratungen machen den Weg frei für uns.as Agenturthema bekommt mehr Business-Drive."
Wenn man es schafft, Themen auf der Markenebene beeinflussbar zu machen, kann man die derzeit vorherrschenden Schnittstellenbrüche an vielen Stellen vermeiden.
(Kai Ebert, Chief Strategy Officer, Fork Unstable Media)
Bild: Fork Unstable Media
Auch wenn es manchmal schwierig ist, als Agentur und kleinerer Player da mit- und gegenzuhalten. "Aber wenn Accenture für eine Aufgabe ihre globale Maschinerie anwerfen kann, lohnt sich das für einen kleinen Mittelständler nicht. Da kommen wir wieder ins Spiel", frohlockt er. Denn es gibt genügend Transformation für alle. Da werde von den großen Beratungshäusern auch viel Schützenhilfe geleistet.
einzelnen Brand-Token-Werte kann direkt Einfluss auf verschiedenste Gestaltungselemente am eigentlichen Touchpoint genommen werden. Sobald nicht nur ein, sondern verschiedenste Plattformen, Touchpoints, ja das gesamte digitale Ökosystem daran angeschlossen ist, kann an zentraler Stelle die Marke nicht mehr nur dokumentiert, sondern aktiv mit unmittelbarem Effekt weiterentwickelt werden.
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