Künstliche Intelligenz und E-Commerce? Im Prinzip ist das ein alter Hut. Machine Learning Algorithmen finden sich schon seit Jahren in Recommendation Engines, Analytic-Tools, Newsletter-Werkzeugen oder der Customer Journey Analysis. Und trotzdem lässt der aktuelle Hype um generative KI-Anwendungen auch den Online-Handel nicht kalt. Nicht nur, weil ChatGPT oder Midjourney erneut ein Schlaglicht auf das Thema Künstliche Intelligenz im allgemeinen geworfen haben. Sondern auch, weil sie tatsächlich neue Anwendungsfelder erschließen: Generative KI ermöglicht es erstmals (scheinbar) neue und (scheinbar) originäre Inhalte - seien es Texte, Bilder oder Videos - zu erzeugen.
Das kann für den Online-Handel ganz handfeste Vorteile bringen. "KI ist taktisches Gold. Stichwort: Kreation mit GPT als Standard-MarTech Feature! Das ist eine große Sache", meint etwa Nils Weber
, Geschäftsführer von Valantic Digital Marketing & CRM
, und ergänzt: "Das stellt CMOs allerdings vor mindestens zwei Herausforderungen. Erstere sind rechtlicher Natur. Die Zweitere betrifft die Reallokation der kognitiven Leistungskraft von Teams auf Strategie-Themen." Bedeutet: Während sich sich operative Aufgaben vermehrt an eine KI auslagern lassen, müssen sich die menschlichen Mitarbeiter ganz den strategischen Aufgaben widmen.
KI spart nicht nur Kosten, sondern ist ein zusätzlicher Kundenservice
(Anton Eder, COS und Co-Founder, parcelLab)
Bild: ParcelLab
Wie das funktionieren kann, zeigte Philipp Göller
, Chef der auf E-Commerce und KI spezialisierten Softwarefirma Paraboost
aus Markgröningen jüngst auf der virtuellen ONEtoONE-Konferenz "Daten und KI
": Mittels ChatGPT ließ er den kompletten Produktkatalog eines Onlinehändlers danach bewerten, welche psychologischen Bedürfnisse die einzelnen Artikeln bei den Kunden ansprechen (Grundbedürfnisse, Sicherheitsbedürfnisse, soziale Bedürfnisse, Individualbedürfnisse, Selbstverwirklichung). Anhand dieser Information konnte Göller die Besucher in verschiedene Zielgruppen segmentieren, gezielt ansprechen und präzise Kaufvorhersagen sowie Berechnungen des Customer Lifetime Value (CLV) anstellen. Das vorhandene Werbebudget ist so stets optimal eingesetzt.
Wie KI die Shop-Performance erhöht ...
Aber auch zu Personalisierungzwecken kann künstliche Intelligenz hervorragend eingesetzt werden.
"Wir nutzen ChatGPT, um tausendfach conversionstarke Produkttexte automatisiert zu erzeugen", verrät Göller.
"Die KI fasst die vorhandenen Texte zusammen und generiert daraus Beschreibungen mit Tagline, hervorgehobenen Selling Points und verkaufsstarker Botschaft." Verkaufsargumente und sprachlichen Stil können zudem an eine männliche und weibliche Zielgruppe oder ein älteres oder jüngeres Publikum angepasst werden. Die operative Arbeit der Texter wird mittels ChatGPT soweit reduziert, dass diese sich ganz auf die Content-Optimierung und die abschließende Kontrolle konzentrieren können.
Viele Unternehmen haben noch Großbaustellen, die mehr Umsatz kosten als ChatGPT einspielen kann.
(Manuel Ludvigsen-Diekmann, CTO, Shopmacher)
Bild: Shopmacher
Solche Beispiele illustrieren, warum KI bei der Datenanalyse und der Generierung dynamischer, personalisierter Inhalte "ein absoluter Gamechanger" ist, wie Dimitri Gärtner
, CEO & Co-Founder des Werbedienstleisters Framen
betont: "Durch die vielfältigen Anwendungen hebt KI das Marketing auf eine neue, personalisierte Ebene und ermöglicht zielgruppengerechte Werbestrategien und -kampagnen."
Dieser Aspekt ist es auch, den Lukas Rintelen
, Gründer und Geschäftsführer von Tucan.ai
, besonders hervorhebt. Die schnelle Datenanalyse mit Hilfe von KI wird in seinen Augen den entscheidenden Vorteil bringen: "Spezialisierte KI-Technologien sind von großem Wert, um Marketingkampagnen zu schärfen, die Wahrnehmung von Produkten und Marken besser zu verstehen und Szenarien zu erstellen oder Trends zu analysieren."
... und die Marketing-Kosten senkt.
Unterm Strich werden auf diese Weise keine Kosten gespart - aber die Ergebnisse im Marketing lassen sich durch die automatisierte Massenproduktion von Creatives und der damit verbundenen Individualisierung enorm verbessern.
Ganz ähnlich verhält es sich auch bei der häufig ins Feld geführten KI-Unterstützung für Suchmaschinen-Optimierung.
"KI bietet auch im SEO viel Potenzial zu mehr Effizienz", verrät Sebastian Schulze
, Online Marketing Consultant bei der Digital Marketing Agentur
hurra.com
. Oft geht es darum, Content für den eigenen Shop zu generieren. Und was könnte eine generische KI besser, als Ratgeberinhalte für Outdoor-Textilen, Camping-Equipment oder Kletter-Ausrüstung zu verfassen? Alle Informationen sind schließlich schon vorhanden und müssen lediglich gut aufbereitet werden.
Um KI sinnvoll einzubinden, müssen Händler ihre Hausaufgaben machen
(Henning Heesen, Gründer und Geschäftsführer, Salesupply)
Bild: Salesupply
Aber auch hier gilt: "Der Mensch hinter der Maschine bleibt nach wie vor unersetzbar", so Schulze. Denn: "Nur wer gute Prompts textet, erhält auch gute Resultate. Und auch die Content-Pflege nimmt einem noch keine AI ab." Letztlich lockt also auch beim Thema SEO eher die Ergebnisverbesserung, als um die Kosteneinsparung.
Anders sieht es aus, wenn es um Geschäftsprozesse geht. "KI ist auch im Versandprozess hilfreich, beispielsweise, um Vorhersagen zu voraussichtlichen Lieferterminen zu treffen", hat Anton Eder
, COS und Co-Founder von ParcelLab
, Kommunikationsplattform für Post-Purchase-Experience erkannt. "Das spart nicht nur Kosten, sondern ist ein zusätzlicher Kundenservice, der sich doppelt auszahlt." Womit sich ein Kreis schließt. Denn auch im direkten Kundenkontakt lassen hervorragend Kosten senken. "Etwa 50 Prozent aller Anfragen sind Lieferstatusabfragen. Hier kann AI den Kundenservice entscheidend entlasten", rät Henning Heesen
, Gründer und Geschäftsführer von Salesupply
, einem E-Commerce Dienstleister für Kundenservice und Fulfillment. "Die smarte Kombination von Mensch und Maschine öffnet in Sachen Prozesseffizienz ganz neue Möglichkeiten."
Aber: Nur die Besten werden profitieren
Um KI aber sinnvoll einzubinden, müssen Händler zunächst ihre Hausaufgaben machen, Schnittstellen schaffen und Datensilos auflösen.
"Bei aller Euphorie für Künstliche Intelligenz sollten Unternehmen nicht vergessen, dass sie häufig noch KI-unabhängige Großbaustellen haben, die mehr Umsatz kosten als ChatGPT ihnen aktuell einspielen kann. Die zu beheben, ist wenig fancy, aber bitter notwendig", mahnt Manuel Ludvigsen-Diekmann
, CTO der E-Commerce-Agentur
Shopmacher
.
Die operative Nutzung von ChatGPT und anderen KI-Lösungen wird letztlich dafür sorgen, dass sich im E-Commerce weiterhin die Spreu vom Weizen trennt:
"In den Unternehmen, in denen noch manuelle Prozesse und Excel-Listen gepflegt werden, ist KI noch Zukunftsmusik. Die Datenaffinität dieser Unternehmen und die Datenbasis ist dann für Automatisierung mit KI meist zu schwach", warnt Oliver Lucas
, Gründer und Geschäftsführer der Münchner E-Commerce-Beratung
ecom consulting
.
"Leider ist das jedoch überwiegend noch die bittere Realität und diese ineffizienten Prozesse sind erhebliche Kostentreiber."
Das heißt unterm Strich nichts anderes als: Wer bereits heute mit seiner Datenstrategie im Hintertreffen ist, muss nun richtig Gas geben, um in Zukunft nicht gänzlich abgehängt zu sein. Nachlässigkeiten der Vergangenheit rächen sich jetzt und können schnell in einer gefährlichen Abwärtsspirale enden: Geringe Investitionsmittel führen zu wenig Innovation. Wenig Innovation führt zu hohen Kosten (und niedrigen Umsätzen). Hohe Kosten (und niedrige Umsätze) führen zu geringeren Investitionsmitteln ...
So gesehen kommt die aktuelle KI-Welle für die E-Commerce-Branche zur Unzeit. Viele Online-Händler befinden sich wegen der schwachen ökonomischen Lage ohnehin in einer angespannten Situation - und gerade jetzt erhöht sich auch noch der Investitions- und Innovationsdruck.
Die Data-Readiness entscheidet
Fatalerweise mag für manche Unternehmen der Gedanke verlockend scheinen, gerade jetzt nicht vorschnell zu agieren. Schließlich sind viele rechtliche, ethische und praktische Probleme rund um den Einsatz von KI ja noch gar nicht geklärt. Im Prinzip ist das richtig, räumt Fabian Göbel
, Partner & Managing Director des Consulting-Unternehmens
Nunatak
, ein:
"Einige Fragen, beispielsweise zur Qualitätssicherung, zum Datenschutz oder zur Voreingenommenheit generativer KI-Modelle, sind noch nicht abschließend geklärt." Aber der Gedanke sollte keinesfalls an dieser Stelle enden. Denn:
"Das größte Risiko besteht darin, erstmal nichts zu tun und abzuwarten. So macht gerade ChatGPT deutlich, wie wichtig es für Marketer ist, spätestens jetzt eine umfassende KI-Strategie zu erarbeiten." Zumal es ja zunächst gilt, "nur" das richtige Fundament zu schaffen, Daten zu konsolidieren und zugänglich zu machen.
Auf dieser Basis lässt sich dann auch einigermaßen gelassen in die Zukunft blicken. Denn soviel ist klar: ChatGPT ist bei weitem noch nicht das Ende, die nächste Evolutionsstufe kommt bestimmt. Jean-Marc König
, Managing Director DACH bei
Papirfly
hat auch schon eine Ahnung, wie die aussehen kann:
"Richtig spannend wird KI erst, wenn sie On Brand Inhalte produzieren kann." Letztlich vor allem eine Frage der Rechenpower und Rechenmodelle.