Wir alle wissen es bereits: Das altbekannte datengetriebene Marketing hat keine Zukunft. Mit der "Cookiekalypse", der weitestgehenden Abschaffung des Third Party Cookie Trackings durch die DSGVO, bleiben die für erfolgreiches Marketing benötigten Insights über das Nutzerverhalten aus.
Erfolgreich werden künftig die Unternehmen sein, die die Evolution von datengetriebenem zu beziehungsorientiertem Marketing schaffen und beherzigen, dass die KundInnen heute die Märkte bestimmen. Aus "E-Commerce", typischerweise gekennzeichnet durch das Hauptziel des Abverkaufs, wird somit "R-Commerce", also der Relationship-Commerce, der eine neue Ära der digitalen Kundenansprache einläutet. R-Commerce ist ein neues Denkmodell für das Digital Business, das auf Beziehung und Dialog setzt und so das Problem von Datenknappheit, Wettbewerbsdruck und steigenden Anforderungen an das Nutzungserlebnis löst. Die Erfolgsfaktoren: Vertrauen zurückgewinnen, Menschen verstehen und datenbasiert in Echtzeit kommunizieren.
Der Grund für eine neue Marketing- und Vertriebsphilosophie liegt in den strengeren gesetzlichen Rahmenbedingungen und neuen technologischen Entwicklungen, vor allem aber auch im veränderten Kundenverhalten. R-Commerce verbindet die drei Disziplinen Datenstrategie, Marketing-Technologie und Psychologie. Ganz zentral ist im R-Commerce der Aufbau von Kundenintelligenzen basierend auf Datengewinnung und -aktivierung, die wiederum für die personalisierte Ansprache über alle Kanäle und Touchpoints hinweg angewendet werden. So eine Veränderung ist tiefgreifend und ihre Implementierung für Organisationen ein intensiver und langfristiger Prozess.
Datenknappheit und Kundenzentrierung als Motivation für eine neue Kundenansprache im Marketing
Auch Google Chrome wird 2024 Third Party Cookies abschalten, dann verbleibt kaum noch Datenmaterial, das für Advertising und Marketing aktiviert und herangezogen werden kann. Werbetreibende und Digital-Unternehmen müssen sich künftig davon verabschieden, auf Kundendaten en masse zugreifen zu können. Schon heute sind nur noch 30 bis 40 Prozent aller möglichen Daten aktivierbar. Doch dies ist nicht nur juristisch-technischen Neuerungen geschuldet. Auch das veränderte Kundenverhalten spielt eine große Rolle, daher muss mit einer veränderten Perspektive auf KonsumentInnen geblickt werden.
Ganz links: Das war einmal und kommt nie wieder.
Grafik: elaboratum
Unternehmen werden künftig auf First-Party-Daten angewiesen sein und dies erfordert das Einholen von expliziten Zustimmungen der NutzerInnen. Consent und Log-in werden somit zu zentralen Elementen, wobei Vertrauen die entscheidende Währung für den Datenaustausch ist. Aus technischer Sicht nehmen Customer Data Platforms (CDPs) im R-Commerce eine zentrale Rolle ein, da um sie herum ein umfassendes Kundenverständnis aufgebaut werden kann. Eine CDP ist ein Aggregator, der die Datenbestände eines Unternehmens aus unterschiedlichen Quellen zusammenführt, bereinigt, normalisiert und unifiziert. Das Ergebnis sind eindeutige Nutzerprofile (Identity Resolution Management) - datenschutzkonform mit 360-Grad-Kundenverständnis.
Auf Customer Data Plattformen lässt sich die Customer Journey zu eindeutigen Nutzerprofilen zusammenführen
Grafik: elaboratum
Das Aus der Cookies von Drittanbietern ist eine echte Chance für neue Datenstrategien. Daten-Streaming in Echtzeit und ein verbessertes Customer-Experience-Management ermöglichen es, tatsächliche Digital-First-Prozesse aufzubauen, dabei KundInnen und ihre Bedürfnisse wirklich ins Zentrum unternehmerischer Überlegungen zu stellen und letztlich starke Kundenbeziehungen zu etablieren. Emanzipierte NutzerInnen kennen den Wert ihrer Daten und geben diese nicht mehr zu großzügig preis. Gleichzeitig wünschen sie sich aber eine perfekte, bedürfnisorientierte und auch überraschende User Experience - ein Dilemma. Für die Unternehmen gilt es also, einen effektiven Weg zu finden, mit den Kunden in den Dialog zu treten - sonst steuern sie aufgrund der gesetzlichen Regelungen auf eine Zeit der eklatanten Datenknappheit zu. Voraussetzungen, um aktivierbare Daten zu gewinnen, sind First Party Cookies sowie User-Consent und -Log-in. Dabei ist das Vertrauen der NutzerInnen in den Anbieter unabdingbar. Vertrauen ist somit eine entscheidende Größe im Beziehungsaufbau.
R-Commerce - eine neue Business-Philosophie als Reaktion auf Datenknappheit und Kundenzentrierung
Relationship Commerce bedeutet, zu überlegen, welche Werte KundInnen haben und was ihnen wichtig ist. Im Detail gilt es, zu überlegen: Was ist das Bedürfnis der KundInnen, wenn sie auf den Sales-Kanälen eines Unternehmens vorbeikommen? Wer sich dieser Frage widmet, widmet sich dem Aufbau nachhaltiger Kundenbeziehungen. Wenn die Angebote passen, werden KundInnen wiederkommen, weitere Daten hinterlassen und in eine Beziehung zum Unternehmen treten. Auf diesem Fundament will R-Commerce aufsetzen.
R-Commerce etabliert sich nicht im luftleeren Raum. Zentral sind für Unternehmen fünf Leitprinzipien, um mit R-Commerce erfolgreich in die Zukunft zu starten.
R-Commerce: Fünf Leitprinzipien
- Privacy firstIn der heutigen digitalen Welt legen KundInnen großen Wert auf den Schutz ihrer Daten. Unternehmen, die den Datenschutz ernst nehmen, zeigen Verantwortung und Integrität. "Privacy first" bedeutet, dass der Datenschutz nicht nur eine gesetzliche Voraussetzung ist, sondern auch eine Unternehmensphilosophie. Es geht darum, den KundInnen zu versichern, dass ihre Daten sicher sind und nur in ihrem besten Interesse verwendet werden.
- KundenzentriertIn der Geschäftswelt dreht sich alles um die KundInnen. Es reicht nicht aus, nur ein gutes Produkt oder eine gute Dienstleistung zu haben; es geht darum, wie man mit den KundInnen interagiert. Kundenzentrierung im R-Commerce geht noch einen Schritt weiter: Hier steht der Aufbau einer persönlichen Beziehung zu den KundInnen im Vordergrund. Unternehmen müssen die Bedürfnisse und Wünsche ihrer Kundschaft kennen und verstehen, um maßgeschneiderte Angebote und Lösungen präsentieren zu können.
- DatenbasiertDaten sind das Rückgrat des R-Commerce. Durch die Analyse von Kundendaten können Unternehmen Muster erkennen, Vorlieben identifizieren und letztlich bessere Geschäftsentscheidungen treffen. Wenn Unternehmen auf datenbasiertes Handeln setzen, haben sie die Möglichkeit, ihre Marketingstrategien zu verfeinern, die Kundenzufriedenheit zu erhöhen und ihre Produkte oder Dienstleistungen zu verbessern.
- MomentgetriebenMomentgetriebenes Marketing setzt darauf, die KundInnen zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Botschaft anzusprechen. Es geht darum, den "perfekten Moment" zu identifizieren, in dem KonsumentInnen am empfänglichsten für ein Angebot oder eine Botschaft sind. Dies kann durch die Analyse von Daten, das Verhalten der KundInnen und unter Berücksichtigung externer Faktoren erreicht werden.
- NachhaltigNachhaltigkeit bezieht sich nicht nur auf Umweltverträglichkeit, sondern auch auf den Aufbau von langfristigen Kundenbeziehungen. Ein Unternehmen, das sich darauf konzentriert, seinen KundInnen kontinuierlich Mehrwerte zu bieten und gleichzeitig ethische Geschäftspraktiken zu befolgen, wird wahrscheinlich eine stärkere und nachhaltigere Kundenbindung erleben.
Die Leitprinzipien funktionieren im Zusammenspiel: Wenn sich alle Bemühungen um die KundInnen drehen sollen, gelingt dies nur mithilfe von Daten, die vertrauensvoll behandelt und zum Aufbau eines besseren, momentgetriebenen Marketings genutzt werden. Das Resultat sind nachhaltige Kundenbeziehungen, von denen Unternehmen und KundInnen profitieren.
R-Commerce: Vier Paradigmen
Es gibt vier wichtige Voraussetzungen, um R-Commerce effektiv umzusetzen:
- Skalierbare TechnologienDie digitale Welt wächst rasant und damit steigen auch die Anforderungen an Unternehmen. Um im R-Commerce erfolgreich zu sein, muss ein Unternehmen in der Lage sein, sich an diese Anforderungen anzupassen. Dies bedeutet, dass die technische Infrastruktur befähigt sein muss, mit wachsenden Datenmengen und einer zunehmenden Anzahl von Kundeninteraktionen umzugehen. Ein skalierbares System stellt sicher, dass bei einer Zunahme von Benutzeraktivitäten oder Daten die Leistung nicht beeinträchtigt wird und das System stabil bleibt.
- Echtzeit-DatenIn einer Welt, die immer mehr auf Momentmarketing setzt, sind Echtzeit-Daten entscheidend. Nur wenn Unternehmen in der Lage sind, Daten in Echtzeit zu erfassen und zu verarbeiten, können sie KundInnen zum exakt richtigen Zeitpunkt ansprechen. Dies ermöglicht es Unternehmen, auf aktuelle Trends, das Kundenverhalten oder Marktveränderungen sofort zu reagieren und ihre Marketingstrategien entsprechend anzupassen.
- Agile OrganisationAgilität ist der Schlüssel zur Bewältigung der Schnelllebigkeit des digitalen Marktes. Ein Unternehmen, das seine Teams und Prozesse agil organisiert, kann schneller auf Kundenfeedback reagieren, Produktänderungen vornehmen und seine Marketingstrategien überarbeiten. Es ermöglicht eine nahtlose Anpassung entlang der gesamten Customer Journey, wodurch das Kundenerlebnis optimiert wird.
- Kultur und MindsetDer Übergang zu einem kundenzentrierten und datengetriebenen Geschäftsmodell erfordert mehr als nur technologische Veränderungen. Es braucht einen Wandel in der Unternehmenskultur. MitarbeiterInnen müssen den Wert von Daten erkennen, die Bedeutung der KundInnen verstehen und bereit sein, traditionelle Arbeitsweisen zu hinterfragen. Ein kundenorientiertes Mindset, kombiniert mit der Bereitschaft, Silos aufzubrechen und kollaborativ zu arbeiten, wird es Unternehmen ermöglichen, im R-Commerce herauszustechen.
R-Commerce kann in Unternehmen sowohl strategisch als auch taktisch, also sehr operativ, zur Anwendung gebracht werden. Nachstehend führen wir zwei Anwendungsfälle auf, die die beiden Einsatzfelder näher beschreiben.
Mit Blick auf die oben beschriebenen Herausforderungen im digitalen Business (Datenknappheit bei der Kundenansprache durch veränderte Rahmenbedingungen) erleben wir in unseren Kundenprojekten immer wieder eine klaffende Lücke zwischen Unternehmensvision, -zielen und dem tatsächlichen Reifegrad, der die Erreichung der Ziele im Kontext der neuen Realität praktisch unmöglich macht. Diese Lücke gilt es methodisch sauber zu erheben und aufzuzeigen, wie weit fortgeschritten ein Unternehmen auf dem Weg ist, eine R-Commerce-Organisation zu werden, die den Aufbau nachhaltiger Kundenbeziehungen in den Mittelpunkt ihrer strategischen Anstrengungen rückt. Für diesen Zweck haben wir ein R-Commerce-Maturity-Assessment konzipiert und etabliert, das wir als strategisches Management-Tool für die Erhebung, Steuerung und Optimierung des digitalen Reifegrads der einzelnen R-Commerce-Dimensionen einsetzen.
Aufbau des Assessments
- Konzeption des Assessments, bestehend aus qualitativen und quantitativen Kriterien innerhalb der 3+1 großen R-Commerce-Dimensionen (Daten, Technologie, Psychologie/Behavioral Design und Organisation).
- Die vier Dimensionen sind noch mal unterteilt in Sub-Dimensionen, sodass eine höhere und konkretere Aussagekraft über Stärken und Herausforderungen im Unternehmen erreicht werden kann.
- Alle Dimensionen und Sub-Dimensionen sind gewichtet.
- Das Ergebnis ist ein R-Commerce-Maturity-Score, ein Wert zwischen 0 und 1000 Punkten, der sich durch die Beantwortung der qualitativen und quantitativen Kriterien in den gewichteten Dimensionen und Sub-Dimensionen ergibt.
- Durch den erreichten Maturity Score werden Unternehmen in einem sechsleveligen Maturitätsmodell einsortiert.
- Jedes Level hat eine sehr genaue Beschreibung, über welche Capabilities ein Unternehmen auf dem Weg zu einer R-Commerce Organisation-verfügt.
- Durch diese exakte Beschreibung lässt sich ein Maßnahmenplan ableiten, um das nächste oder ein bestimmtes Level zu erreichen.
Vereinfachte Darstellung der sechs Kundenverständnis-Level
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In diesem Beispiel aus der Versicherungsindustrie haben wir für unseren Kunden das Maturity Assessment für mehrere Ländergesellschaften durchgeführt. Ziel war es, initial den Reifegrad der einzelnen Länderorganisationen zu erheben und abgeleitet davon individuelle und übergreifende Projekte aufzusetzen, um den Reifegrad kontinuierlich zu verbessern. Das Ergebnis ist ein mittlerweile etabliertes Management-Tool, das jährlich zur Erhebung, Steuerung und Optimierung des digitalen Reifegrads der einzelnen R-Commerce-Dimensionen eingesetzt wird. Neben dem unmittelbaren Mehrwert für ein Unternehmen, das eine neutrale und objektive Einschätzung des Reifegrads und einen konkreten Maßnahmenplan für die Erreichung der gesteckten Ziele erhält, kann das Tool auch als Branchen-Benchmark eingesetzt werden. Das heißt, Unternehmen können sich auf oberster Score-Ebene mit Wettbewerbern vergleichen und sehen, wie sie im direkten Vergleich abschneiden.
Die Wirksamkeit des R-Commerce zeigt sich bei der Realisierung von Use Cases. Bei einem Kunden aus der Telekommunikationsbranche konnten wir starke Conversion-Rate-Steigerungen im Cross-Selling erzielen, indem wir Data Driven Marketing mit Prinzipien aus dem Behavioral Design zusammengebracht haben. Diese Kombination, angewendet mit der passenden technischen Infrastruktur, ist ein mächtiges Instrument, um mehr Potenziale aus den Bestandskunden zu schöpfen. Der Hebel zur Skalierung der Use Cases liegt vor allem im Design von Cross-Channel-Customer-Journeys, denn damit wird ein ausreichender Traffic-Strom über alle Touchpoints ermöglicht und die Effizienz der Methodik sichtbar.
In unserem Case wurde von der initialen Ansprache für mögliche InteressentInnen aus der Bestandskundschaft bis zum Warenkorbabbruch ein ganzheitlich konzipiertes Customer-Journey-Design entwickelt. Für dieses Design wurden die Marketingaktivitäten nicht silohaft isoliert, sondern synchronisiert orchestriert, um die KundInnen individuell zu erreichen. Klingt logisch, ist aktuell jedoch in der Realität bisher noch die Ausnahme - zu groß ist der Kampf mit dem Silo-Denken der Abteilungen und dem Datenchaos. Daten werden meist nicht vereinheitlicht und für Aktivierungszwecke prozessiert. Wir haben jedoch datenbasiert mittels eines Scoringmodells die Bedürfnisse der KundInnen identifiziert und passende Lösungen entwickelt. Das Scoringmodell lieferte uns die Kundengruppe, die die höchste Wahrscheinlichkeit aufweist, eine Affinität für das Produkt zu haben. Damit konnten wir eine initiale Ansprache über einen Push-Kanal designen, um die KundInnen, die mit der ersten Ansprache interagiert haben, weiter über Personalisierungsmaßnahmen in Richtung Conversion zu leiten.
Das Ergebnis waren verschiedene Experiences je nach Phase des Kaufprozesses, um die KundInnen ihrem aktuellen Bedarf entsprechend zielgerichtet und personalisiert anzusprechen. Hierfür brauchen Unternehmen die richtige Technologie, um den Kundenkontext zu verstehen. Sie müssen Daten sammeln und sich bei jedem Schritt der Customer Journey mit ihren UserInnen auf der Grundlage intelligenter Datenanalyse und abgeleiteter Interaktionen verbinden.
Das Ergebnis in unserem Telco-Case waren hohe einstellige Conversion Rates und eine gezielte Steigerung des Customer Lifetime Values für die spezifische Kundengruppe.
R-Commerce als ganzheitliche Strategie
Eine R-Commerce-Strategie zu entwickeln, ist aktuell die Herausforderung für fast jedes Unternehmen. Wesentliche Einflussfaktoren hinsichtlich der Strategie sind das Kundenverhalten, rechtliche und technologische Veränderungen, alle drei Aspekte sind gerade massiv in Bewegung. Zusammenfassend muss jeder Aspekt eines Unternehmens, von seiner Technologie bis zu seiner Kultur, darauf ausgerichtet sein, die Bedürfnisse und Erwartungen der KundInnen in den Mittelpunkt zu stellen. In einer sich schnell verändernden Geschäftswelt ist eine solide R-Commerce-Strategie unerlässlich für den langfristigen Erfolg.
Joachim Stalph, elaboratum
Bild: elaboratum
Joachim Stalph
ist Managing Partner und Experte für Data und Tech bei elaboratum
. Im Themenfeld kundengetriebenes Marketing und Relationship Commerce beschäftigt ihn die Frage, wie aus rohen Daten intelligente Erkenntnisse gewonnen und aktiviert werden können. Das Fachbuch "R-Commerce. Wie die digitalen Champions von morgen mit neuen Datenstrategien echte Kundenbeziehungen aufbauen"
ist im Oktober 2023 im SpringerGabler Verlag
erschienen. Autoren sind Joachim Stalph (Fokus Daten), Dr. Philipp Spreer (Fokus Psychologie) und Dimitrios Haratsis (Fokus Technologie).