Vor allem die Entscheider von Finanzdienstleistern sehen Aufholbedarf des eigenen Unternehmens im internationalen Digitalisierungswettbewerb. In der verarbeitenden Industrie fällt die Bilanz dagegen positiver aus. Das ergibt die Studie 'Potenzialanalyse Reality Check Digitalisierung' von Sopra Steria
und dem F.A.Z.-Institut
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Den Rückstand beim Thema Digitalisierung machen die befragten Manager an unterschiedlichen Stellen fest. In 35 Prozent der Unternehmen fehlt immer noch eine Strategie, um Geschäft, Prozesse und Organisation zu digitalisieren. Vielfach reiht sich Projekt an Projekt, ohne dass die Vorhaben ineinandergreifen. Jeder zweite Entscheider sieht deshalb die Projektvielfalt als einen entscheidenden Grund für den Rückstand im eigenen Unternehmen. "Die Analyse der Ergebnisse zeigt, dass Unternehmen vor allem Schwierigkeiten haben, einen roten Faden für ihre Digitalisierungsmaßnahmen zu entwickeln, oder diesen nicht konsequent durchhalten. Die Folge ist dann häufig, dass sich Unternehmen verzetteln, sich der Umbau verzögert oder gewünschte Ergebnisse wie mehr Effizienz ausbleiben", sagt Frédéric Munch
, Mitglied der Geschäftsleitung von Sopra Steria und Leiter der Managementberatungssparte Sopra Steria Next.
Viele Unternehmen sind zudem nach der Einführung von Standardsoftware - 61 Prozent der Unternehmen haben ihre alten IT-Systeme bislang flächendeckend modernisiert - nicht viel weitergekommen mit dem digitalen Umbruch. Jedes fünfte Unternehmen hat das Kapitel Standardisierung und Automatisierung von Abläufen für sich abgeschlossen. Jedes zweite befindet sich derzeit tief in der Umsetzung. Ähnlich weit sind die Unternehmen bei der unternehmensübergreifenden Einführung agiler Arbeits- und Führungsmethoden und der Verlagerung der IT-Infrastruktur in Cloud-Computing-Umgebungen.
Die Mehrheit der Unternehmen ist aufgrund der vielen Baustellen noch weit davon entfernt, ihre Geschäftsmodelle komplett zu überdenken und digitales Geschäft als ihr Kerngeschäft zu betrachten. Zwölf Prozent der befragten Entscheider würden hinter diesen Transformationsschritt einen Haken setzen. Für jeden vierten ist die Entwicklung digitaler Erlösquellen derzeit überhaupt kein Thema. Andere Veränderungsschritte haben deutlich Vorrang. Eine große Zahl der Unternehmen, 45 Prozent, beschäftigt derzeit der kulturelle Umbruch. Viele Firmen haben hart daran zu arbeiten, ein neues Denken bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu etablieren.
Banken und Versicherer geben sich selbstkritisch, die Industrie optimistisch
Finanzdienstleister sehen sich im Vergleich zum Durchschnitt aller untersuchten Branchen häufiger im Rückstand bei der Digitalisierung. 41 Prozent betrachten das eigene Unternehmen als Nachzügler, nur neun Prozent als Vorreiter. Dabei sind viele Finanzdienstleister in einzelnen Maßnahmen vielfach deutlich weiter als Unternehmen anderer Branchen. Drei Viertel der Banken und Versicherer bieten digitale Services an oder entwickeln diese, und sie haben häufiger als andere Branchen in weiten Teilen agiles Arbeiten etabliert. Fast jeder zweite Finanzdienstleister arbeitet an digitalen Geschäftsmodellen.
"Das zeigt, dass Banken und Versicherer unter einem größeren Digitalisierungsdruck stehen als andere Branchen. Digitale Produkte und automatisierte Prozesse sind quasi Standard und keine Errungenschaften, mit denen sich Unternehmen abheben", sagt Robert Bölke
, verantwortlich für digitale Bankstrategien und Betriebsmodelle bei Sopra Steria Next.
"Im Maschinenbau oder im Energiesektor sind Unternehmen, die eigene digitale Plattformen betreiben oder digitale Geschäftsmodelle entwickeln, dagegen häufiger Vorreiter ihrer Branche", so Bölke.
Zum Vergleich: Bei Energieversorgern fallen deutsche Unternehmen nach eigener Einschätzung im internationalen Digitalisierungsvergleich weniger zurück. Dasselbe gilt für die öffentliche Verwaltung. 41 Prozent der Entscheider dieser beiden Branchen sehen sich ähnlich weit wie Unternehmen oder Behörden in anderen Ländern. Von einer breiten digitalen Transformation lässt sich allerdings nicht sprechen. In der verarbeitenden Industrie ist die Zahl der Optimisten am größten. Jeder zweite befragte Entscheider stuft das eigene Unternehmen zumindest als digital gleichwertig ein im Vergleich zum Wettbewerb. Jeder fünfte sieht sich als Digitalisierungsvorreiter.
Die Unterschiede in der Selbstwahrnehmung und Umsetzung der Digitalisierung haben auch strukturelle Gründe. Banken und Versicherungen sowie die öffentliche Verwaltung sind hier stärker auf externe Unterstützung angewiesen als beispielsweise der Maschinenbau oder der Energiesektor. Die Ursachen hierfür liegen zum Teil in der Belegschaft. In der Finanzwirtschaft arbeiten seit Jahrzehnten größtenteils Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit einem betriebswirtschaftlichen und juristischen Hintergrund. Gleiches gilt für die Verwaltung. In der Industrie hingegen finden sich naturgemäß viele Absolventen der MINT-Disziplinen. Dies ist kulturprägend für Unternehmen und Organisationen, inklusive der internen Karrierepfade.
Corona-Check: Ein Drittel sieht positive Digitalisierungseffekte
Der Ausbruch der Corona-Pandemie gilt als Katalysator für die Digitalisierung von Wirtschaft und öffentlicher Verwaltung. Einen echten Schub nehmen allerdings nicht alle Unternehmen wahr. 30 Prozent der befragten Entscheider sehen positive Effekte und bestätigen: Ja, wir haben in der Pandemie in die Digitalisierung unserer Geschäftsprozesse investiert und dadurch einen dauerhaften Digitalisierungsschub erfahren. In jedem zweiten Unternehmen hat die Pandemie nicht viel mehr bewirkt als die Zunahme von Videokonferenzen und Home-Office. Vier Prozent beklagen, dass sie durch die Krise im Digitalisierungsprozess zurückgeworfen wurden.