30.12.2002 - Milieu-Segmentierung fürs Marketing: Sinus Sociovision erforscht die Ethnologie des Alltags
"Welcher Klinkentyp sind Sie?", fragt der Türklinkenhersteller FSB Franz Schneider Brakel in einer aktuellen Response-Anzeige - und lädt den potenziellen Kunden zu einem illustren Türklinken-Ratespiel ein. Denn auf jeden Persönlichkeitstyp passt eine Klinke, so die Anzeige. Anhand der so genannten Sinus-Milieus, die sämtliche Lebensstile der Menschen klassifizieren und zu einzelnen Gruppen zusammenfassen, soll die Zuordnung der typgerechten Türklinke erleichtert werden. Schließlich sagt die Lebenswelt des Einzelnen viel über dessen Geschmack und dessen Konsumneigungen aus.
Und das gilt natürlich nicht nur für den Klinkenkauf. So wird ein konservativer, humanistisch geprägter, technikfeindlicher Bundesbürger sicherlich andere Konsumvorlieben haben als sein unkonventioneller, hedonistischer und multimediabegeisterter Zeitgenosse. Wer wirklich die richtige Zielgruppe mit den richtigen Produkten erreichen will, muss mehr über sie wissen als Alter, Bildung und Einkommen, eben die klassischen soziodemographischen Kriterien. Entscheidend ist nämlich auch die Alltagswirklichkeit der Verbraucher: die Lebensstile und -ziele, Interessen, Erlebnisbereiche und Grundorientierungen.
Bereits seit 1979 nimmt sich das Heidelberger Forschungs- und Beratungsinstitut Sinus Sociovision der Analyse solcher psychographischer Merkmale an. Auf Basis kontinuierlicher Trendforschung wurden die Bundesbürger in zehn Milieu-Gruppen eingeteilt. Da gibt es zum Beispiel die "Etablierten", die dem selbstbewussten Establishment angehören, klare Karrierestrategien verfolgen, Luxus genießen - und ihn sich auch leisten können. Die "Experimentalisten" hingegen sind ungezwungen, spontan, kommunikativ und distanzieren sich gern vom Mainstream. Und dann wären da noch die "DDR-Nostalgischen", die sich als Verlierer der Wende fühlen und Prestige-Konsum ablehnen, oder aber die "Modernen Performer", die technikbegeisterte, häufig in der New Economy angesiedelte, unkonventionelle und kosmopolitische Leistungselite. Das größte Milieu indes ist aber die "Bürgerliche Mitte": der statusorientierte moderne Mittelstand, der nach beruflicher Etablierung und gesicherten harmonischen Lebensverhältnissen strebt (siehe Grafik oben).
"Die Milieus versuchen, die Menschen zu erfassen und in ihrer Grundeinstellung zu verstehen", sagt Thomas Perry, Director Research und Consultant bei Sinus Sociovision. "Wir fragen, wie die Leute ticken. Was sie antreibt." Und in Kombination mit Konsum- und Geografiedaten können die Milieu-Informationen letztlich zu Marketingzwecken genutzt werden. So arbeitet Sinus Sociovision auch mit dem Mikromarketing-Spezialisten Microm zusammen. Microm hat sein Konzept der mikrogeografischen Segmentierung mit dem Zielgruppenmodell der Sinus-Milieus verknüpft und daraus die so genannten Mosaic Milieus abgeleitet. Damit kann die Milieu-Wahrscheinlichkeit nun auch auf kleinster lokaler Ebene berechnet werden. Da freut sich natürlich der Werbungtreibende, kann er doch auf Basis dieser Informationen seine Kampagnen zielgerichtet steuern.
Doch lässt sich die Welt so einfach in zehn Milieus unterteilen? Wird man mit dieser Klassifizierung den komplexen Lebens- und Konsumgewohnheiten der Menschen wirklich gerecht? Perry: "Die Milieus sind ein Vorschlag, wie man Verbraucher zu sinnvollen Gruppen zusammenfassen kann. Wir sagen ganz offen, dass es keine Schwarz-Weiß-Kategorien sind. Wir sprechen dabei von einer Unschärferelation der Wirklichkeit. In allen Milieus gibt es durchaus Überschneidungen." Es handelt sich also eher um ein Wahrscheinlichkeitsmodell, das sicherlich nützlich, aber keineswegs allumfassend ist. Denn: "Die Welt ist ein Kontinuum an Lebensstilen", so Perry. "Dennoch muss man irgendwo eine Grenze ziehen und sich für eine Klassifizierung entscheiden. Man kann im Marketing ja nicht mit 60 verschiedenen Zielgruppen arbeiten."
Auch wenn die Milieu-Einteilung also mit gewissen Unschärfen leben muss, so bietet sie dennoch Aufschluss über den gesellschaftlichen Wandel. Und der kontinuierlichen Veränderung von Alltag und Alltagsbewusstsein muss letztlich auch das Marketing Rechnung tragen.
Wie die jahrzehntelange Trendforschung zeigt, hat sich hier zu Lande einiges getan. "Insbesondere die 90er Jahre haben mit ihrer Entideologisierung und der Trennung von traditionellen Denkschemata viel bewegt", sagt Perry. "In dieser Zeit sind die Modernen Performer entstanden, und es hat sich ein Wandel zur Genussorientierung vollzogen. Man ist heute lebenslustig und leistungsorientiert. Das war früher in dieser Kombination nicht unbedingt der Fall."
Andere Milieus hingegen verschieben sich oder sterben aus. Das "alternative Milieu", politisch denkend und dem Konsum stark abgeneigt, beispielsweise sei schon seit 1994 wieder verschwunden. Perry: "Es gibt zwar immer noch Leute mit langen Haaren, aber die haben sich in andere Gesellschaftsgruppen verlagert." Auch die Traditionsverwurzelten, tendenziell in der älteren Generation zu finden, werden immer weniger.
Für Marketer und Unternehmer jedenfalls gilt: Veränderte Lebensverhältnisse erfordern auch veränderte Kundenansprache und andere Produkte. Das Verbraucherverhalten ist eben auch eine Sache der Persönlichkeit. Und damit sind wir wieder beim Türklinken-Beispiel angelangt. sam
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