07.04.2020 - Der Standort München ist in Sachen Digitaler Transformation weit vorn in Deutschland, beim Marketing aber eher nur im Mittelfeld. Er lebt von seinen großen Playern, von vielen zahlungskräftigen Kunden und gut ausgebildeten Arbeitskräften - und krankt an seinem Erfolg.
von Joachim Graf , vfa
München hat eine eher geringe Werbeaffinität, wenn man einer ZMG -Auswertung über Werbeverweigerer glaubt. In Frankfurt, München, Stuttgart oder Heidelberg möchte danach mehr als die Hälfte der Haushalte keine Werbung im Briefkasten. Spitzenreiter jedoch ist die Stadt München mit 61,5 Prozent der Haushalte.
Digital hingegen ist München weit vorne. Ein Ranking über die besten Städte der Welt für die Gründung eines Online-Unternehmens positioniert München ganz vorne. Sellics Marketplace Analytic
, die Digitalunternehmer aus aller Welt betreut, analysierte die Bedingungen für Web-Unternehmer in Städten. Ergebnis: In Deutschland führt München vor Hamburg und Frankfurt. Aber Gründer müssen auch am meisten Geld mitbringen.
Die Betroffenen sehen das ähnlich: Im Vergleich der Metropolregionen "braucht sich München sicher nicht hinter Berlin oder Hamburg verstecken", wie es Tobias Schalkhausser, Geschäftsführer von Schalk&Friends
, formuliert - da sind sich die meisten der von uns Befragten einig. Thorsten Harras, Managing Partner der ECommerce-Beratung Elaboratum
, beispielsweise sieht an der Isar "jede Menge Substanz statt Startup-Romantik" - so viel Rekordmeister muss sein.
Eric Kubitz, Geschäftsführer der Contentmanufaktur
, sieht Vorteile - vor allem wenn es um den Hektiklevel geht. Er schätzt am Standort den "menschlicheren Umgang miteinander." Für ihn "wirken die Berliner oder Hamburger manchmal noch getriebener und etwas rücksichtsloser als die Branche eh schon ist."
Michael Nenninger , CEO der Voycer AG
, erfreut sich an der Kundennähe: "Als B2B-Anbieter erhält man die höchste Dichte an potentiellen Kunden und das über viele Schlüsselbranchen hinweg - also warum nicht vor der Tür verkaufen? Rund 20 Prozent unserer Konzernkunden sind vor Ort, davon träumen die Berliner Start-up Kollegen."
Auch Oliver Lindner, Geschäftsführer der Agentur SEO-Küche Internet Marketing
sieht optimale Bedingungen: "Eine breite Basis an potenziellen Kunden, die aus einer guten Mischung besteht - regional verwurzelte Traditionsunternehmen mit teilweise viel Potenzial für den Start in die Onlinewelt und dynamischen Start-ups."
Die hochdigitale Umgebung gepaart mit einem großen Freizeit- und Kulturangebot und einer extrem hohen Lebensqualität "bietet alles für eine gesunde Work-Life-Balance und wird auch zukünftig große Anziehungskraft für digitale Talente und Wirtschaft haben", freut sich darum auch Sebastian Sommerer, Gründer und Geschäftsführer der Agentur Blue Summit Media
. Er sieht Fluch und Segen zugleich und klagt: "Zentrale Büroflächen gehen mit exorbitanten Mietpreisen einher und mächtige ansässige Digitalanbieter gewinnen häufig den Kampf um qualifizierte Studienabgänger."
Tatsächlich verdeckt das helle Münchner Licht so manche Schattenstelle im Onlinemarketing an der Isar. Um ein tatsächliches Bild über den Standort München zu ermitteln, haben wir (für Digitalmarketing) die Ausstellerlisten der führenden Messen Dmexco
und OMR
nach Standort gezählt ausgewählt. Hier landet München nur im Mittelfeld der deutschsprachigen Metropolen. Für die Bewertung des Segments Commerce haben wir aus dem Ranking der Top-1.000-Onlineshops des EHI
die Zahl der Onlineshops einerseits und der am jeweiligen Standort kumulierten ECommerce-Umsätze betrachtet. Hier landet München ebenfalls nach Hamburg und Berlin auf Platz drei. Beim Digitalstandort (bewertet nach Umsatz, Mitarbeiterzahl und Anzahl der Fullservice-Internetagenturen im Internetagentur-Ranking
von BVDW, W&V, Horizont und iBusiness
) landet München auf dem zweiten Platz nach Berlin.
"Aus Arbeitgebersicht ist München vor allem aufgrund der guten Universitäten und Hochschulen und den daraus resultierenden hochqualifizierten Arbeitskräften ein toller Standort", sieht auch Sabine Delorme, Directrice HR bei Tyntec
. Allerdings: "Diese enorme Fülle an Möglichkeiten führt unter den Arbeitgebern aber definitiv zu einem War of Talents." Und Ben Bereuter von Siccma Media GmbH
ergänzt im Hinblick auf Google, die kürzlich ein innerstädtisches Grundstück erworben haben und dort weitere 1.500 Arbeitsplätze schaffen wollen: "Arbeitnehmer werden von der Vielzahl der lokal angesiedelten Tech- und Digitalunternehmen heiß umworben."Sabine Delorme klagt darum: "Insbesondere die Global Player gewinnen beim Kampf um die Mitarbeiter oft gegenüber Unternehmen mit vergleichsweise unbekannten Namen." Um qualifizierte Mitarbeiter zu gewinnen, müssten sich Unternehmen attraktiv aufstellen. Ben Bereuter empfiehlt darum "unterstützende Maßnahmen wie z.B. die Hilfe bei der Wohnungssuche" oder gar "das Vorhalten eigener Mitarbeiterwohnungen als attraktive Instrumente der Mitarbeitergewinnung."
Für kleine Unternehmen und Start-ups ist München generell ein schweres Pflaster, schätzt Intent
-Geschäftsführer Yannik Süß: "Meine persönliche Meinung ist, dass München ein schwerer Standort für Start-ups ist. Die Mieten und Gehälter sind auf Rekordhoch. Selbst wenn die Finanzierungsgrundlage bei den Unternehmen da ist, müssen Mitarbeiter (meistens in der Entwicklung) erst einmal gefunden werden. Der Konkurrenzdruck ist deutlich zu spüren."Thomas Kaiser von Cyberpromote
sieht Gründe für den Arbeitskräftemangel inzwischen sogar innerstädtisch: "Der zunehmende Verkehr und der problematische öffentliche Nahverkehr hat aber zunehmende Auswirkungen, sodass sich Mitarbeiter eine Arbeit 'um die Ecke' suchen." Cyberpromote merke das "sowohl bei Kündigungen als auch bei Bewerbungen." Er sieht ein "mikroregionales" Denken wichtiger werden - selbst wenn man auch Homeoffice anbietet. Denn wer in München-Perlach wohnt, will nicht in München-Moosach arbeiten - und umgekehrt.
Dass München gerade im Dienstleistungssektor zunehmend Probleme bekommt, bestätigt auch Robert Pietsch, Vorstand von EMail-Marketingsuiteanbieter Agnitas . Weil München eben bei den Anbietern für digitale Marketingservices weit vorne liegt, mache es "für Unternehmen zunehmend schwerer und auch teurer, geeignete Arbeitnehmer zu finden." Eine Situation, an der sich seiner Meinung nach auch in Zukunft wenig ändern wird. Aber es sei auch eine Situation, mit der die meisten Unternehmen zu leben gelernt hätten. Schließlich "herrscht in der bayerischen Metropolregion schon lange ein Arbeitsmarkt vor, in dem sich qualifizierte Arbeitnehmer die besten Job-Angebote aussuchen können."Der leergefegte Arbeitsmarkt sorgt darum beispielsweise für Silvan Dolezalek zu einer Art "Hass-Liebe" für den Standort München. Der Geschäftsführer der CosmoShop GmbH achselzuckend: "München ist für uns Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite bindet München viele Fachkräfte, die dann im Umland nicht mehr zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite gibt es durch die Konzentration der Technologie in München aber auch sehr viele spannende Projekte und Kooperationen die Spaß machen." Der Fachkräftemangel sei jedoch für ihn "ein echter Schmerz". Durch die neuen Großprojekte von BMW, Google & Co. werde das "auch so schnell nicht besser. Es fehlen einfach ein paar Tausend Entwickler in München."
Florian Bender von SIGS Datacom
hingegen sieht die Sache sportlich: "Der Jobmarkt erfindet sich in München neu, und das sollte jeder als Chance sehen sich in dem Prozess mit zu verändern. Das, was gerade passiert, wird bleiben und geht nicht mehr weg! Daher sollten wir den Blick nach vorne richten und schauen, wo unser Platz in dem neuen Konstrukt ist."
Was hingegen an der Isar nach wie vor fehlt, ist die Branchenvernetzung, wie Thorsten Harras, Managing Partner von ECommerce-Berater Elaboratum
, beklagt: "Als eher unterentwickelt schätzen wir noch die Vernetzung von Unternehmen und Dienstleistern untereinander ein. Hier könnte die Community aus sich selbst heraus noch mehr auf die Beine stellen."Auch Johannes F. Woll, Gründer der Social Event GmbH
, nimmt wahr, "dass es um die Ressourcen schlecht bestellt" sei und nennt neben der fehlenden Community und infrastrukturellen Themen den Bereich der öffentlichen Förderungen und der Investoren: "viele Süppchen, noch mehr Köche." Jedoch zumindest, was das Thema hohe Mieten angeht, gibt PR-Agenturchef Christian Faltin von Cocodibu
einer sich global verstehenden Branche Entwarnung: "Noch ist München keine Mega-City und im Vergleich mit London oder Paris fast ein Schnäppchen." Doch auch die relativierenden Aussagen helfen wenig. Im Zuge unserer Recherchen sind wir auf eine nicht unerhebliche Zahl von Digital- und Marketingverantwortlichen gestoßen, die wegen der hohen Kosten dem Standort an der Isar den Rücken gekehrt haben.
Beate Noeke beispielsweise, die Beraterin
für das Betriebliche Gesundheitsmanagement, fand es zu schwer, "Produkte und Dienstleistungen so zu positionieren, dass auch trotz der hohen Miet- und Lebenshaltungskosten ausreichend Umsatz generiert werden kann." Ihre Entscheidung: "Um entspannter auf dem Markt agieren zu können, bin ich seit drei Jahren in Lüdenscheid tätig."
Es muss jedoch nicht immer Lüdenscheid sein. Selbst in München kann mancher leben und arbeiten - wenn der Standort aufgegeben wird: Severin Lucks, Geschäftsführer der Delucks GmbH
, beispielsweise ist nur noch alleine in München ansässig. Sein Büro in der Marsstraße hat er aufgegeben, "da es mir der Bau- und Verkehrslärm es nicht mehr wert war." Er und sein Team arbeiten völlig dezentral, im Home Office. Er hat damit nur positive Erfahrungen gemacht: "Durch das dezentrale Setup meiner Firma sind alle Mitarbeiter wesentlich produktiver."
Auch Dr. Michael Kausch, Geschäftsführer und CEO der PR-Agentur Vibrio Kommunikationsmanagement
, ist diesen Weg gegangen. Er setzt mit seiner "weitgehend virtualisierten Agentur" ebenfalls stark auf Homeoffices: "Eine Kollegin lebt in Nürnberg, eine andere auf Sylt. Von Augsburg oder Mühldorf aus kann man auch locker einmal pro Woche in unsere Zentrale direkt am Hauptbahnhof reinfahren. So gesehen ist München ein ausgezeichneter Digitalstandort, weil man dann weder eine Wohnung, noch einen Parkplatz an der Isar benötigt."
Wegziehen, um zu bleiben, das scheint für manchen eine Handlungsalternative zu sein für den Marketingstandort an der Isar. Die andere Handlungsalternative ist dialektisch zu denken. Also Licht und Schatten gleichermaßen zu genießen, wie es Sebastian Sommerer von BlueSummit formuliert: "München, der schönste Digitalstandort Deutschlands, aber mit Tücken - ich liebe es!"
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