Print kann Massenvervielfältigung, und das seit fast 600 Jahren. Kein Buchhandel, keine Bibliotheken, keine Wissenschaft ohne Bücher. Massenmedien verdanken Print ihre Entstehung, Öffentlichkeit überhaupt entstand nur dank dem Massendruck. Aber Print beherrscht auch die Individualisierung und das ist nicht nur relativ neu, sondern widerspricht auch fundamental den gelernten Denkmustern.
ONEtoONE 6/2023 - Programmatic Printing
Seit 2017 existiert der Begriff "Programmatic Printing", geprägt durch den Druckprofi Gerhard Märtterer, der die Digitalisierung seiner Branche auch davor schon voranbrachte. 2022 gründete er die
Programmatic Print Alliance
, um für die Publisher eine Anlaufstelle zu bilden, in der sich Dienstleister der neu entstehenden Branche versammeln. Denn das ist Programmatic Printing inzwischen: ein neuer Wirtschaftszweig aus Digital- und Druckprofis, die Print als weiteren Vertriebskanal für digitale Marketingmaßnahmen aufbauen. Programmatic Printing stützt sich nämlich auf die ohnehin in den Datenbanken der Unternehmen vorhandenen First-Party-Daten - und die sich daraus ableitenden, exakten Profile von KäuferInnen machen individualisierte Druckaufträge überhaupt erst möglich. So wie Targeting-Cookies UserInnen quer durch das Internet folgen, und dadurch personalisierte, also relevante Werbung für jeden einzelnen Menschen ermöglichen, verwirklicht Programmatic Printing die an persönlichen Interessen orientierte Briefkastenwerbung.
Reaktivierte Warenkorbabbrüche bringen Conrad Electronic 20 Prozent mehr ein
Technisch schon seit Mitte der 2010er Jahre möglich, hat Programmatic Printing aber erst seit einigen Jahren auch den Anschluss an konkurrenzfähige Preise gefunden. Möglich machten dies technische Innovationen im Bereich Digitaldruck. Das 24-Stunden-Zeitfenster, Standard für Programmatic Printing von der Auftragsannahme bis zur Auslieferung an die Post, wird seither von immer mehr innovationsfreudigen Unternehmen genutzt.
Eine aktuelle Studie des Marktforschungsinstituts
Baymard
belegt, dass 70 Prozent aller Warenkörbe weltweit abgebrochen werden, bei mobilen NutzerInnen beträgt die Quote laut Barilliance sogar 85 Prozent. Neben technischen Mängeln der Online-Shops liegt dies vor allem am Fehlen einer eigenen Merkliste, was dazu führt, dass dafür häufig der Warenkorb verwendet wird. Weitere Gründe sind als zu hoch empfundene Versandkosten, Zeitmangel und die Ablenkung der VerbraucherInnen durch äußere Einflüsse. Warenkorbabbrüche stellen daher ein großes Problem der ECommerce-Branche dar, welches innovative Lösungsansätze wie Programmatic Printing dringend erforderlich macht.
Beispiel
Conrad Electronic
: Der oberpfälzische Händler von Elektronikartikeln hat seine Geschäftsaktivitäten, nach langer Zeit als bekannter Filialist, weitgehend ins Internet verlegt. Liegengelassene Warenkörbe sind daher verlorenes Kerngeschäft, weshalb von dem Unternehmen bisher stets Reminder-E-Mails an die Kundschaft geschickt wurden. Doch diese Strategie funktionierte zuletzt immer weniger. Viele E-Mail-Postfächer sind hoffnungslos verstopft, hinzu kommen Spamfilter, von manchen Menschen fehlen die Einwilligungen für den E-Mail-Empfang von Conrad - alles zusammen führte zu immer geringeren Öffnungsraten und noch weniger abgeschickten Warenkörben. Die Lösung: Programmatic Printing. Ausgewählte KundInnen, deren Warenkorb unabgeschickt in ihrem Konto liegt, erhalten von Laudert, dem Print-Dienstleister von Conrad Electronic, ein Anschreiben per Post, in dem sie an die liegengelassene Ware erinnert werden. Komplett mit Fotos aus den digital hinterlegten Daten in den Konten bilden sie einen Kontakt, den viele KundInnen als sehr relevant wahrnehmen. Zwischen sechs und neun Prozent liegt die Response-Quote auf die Print-Mailings - ein erheblicher Wert in der Elektronikbranche. Die wiederaufgenommenen und letztendlich eingekauften Warenkörbe sind zudem um ein Fünftel wertvoller als der durchschnittliche Warenkorb bei Conrad. Daniel Blay, Head of Offline Marketing bei Conrad, zeigt sich mit der bisherigen Leistung des neuen Werbekanals sehr zufrieden: "Durch Programmatic Printing steht uns ein sehr wirtschaftliches und kostendeckendes Werbemittel zur Verfügung."
Mit Programmatic Printing reduziert Seventyseven den CPO-Wert um drei Viertel
Aus einer anderen Richtung stieß der nordrhein-westfälische Online-Shop-Betreiber
Styleboom
auf das Thema Programmatic Printing. Der Fashion-Händler ist mit seinem Online-Shop Seventyseven auf Cross- und Upselling durch das Vorschlagen ganzer Outfits spezialisiert und warb damit lange Zeit sehr erfolgreich auf Social Media. Doch dann funktionierte der Kanal von Jahr zu Jahr weniger gut. Vor allem, weil Wettbewerber aus dem asiatischen Raum ihre Kundschaft mit aufdringlichen Werbemaßnahmen vergrößern wollen und mit exorbitant hohen Werbebudgets die sozialen Netzwerke fluten. Das drückt Modeanbieter wie Seventyseven auf unattraktive Werbeplätze. Aber auch die schärferen Datenschutzregulierungen sorgten für Druck. Ein Strategiewechsel im Marketing wurde daher immer dringender. Seventyseven-COO Tomasz Stefanowski sah sich nach anderen Möglichkeiten der Angebotskommunikation um, die seinem Wunsch nach individualisierter Werbung entsprachen. Über die Empfehlung seines ERP-Anbieters
D&G Software
stieß er auf den Beratungs- und Prozessspezialisten für 1:1-Kundenkommunikation
Smartcom
, der ihm Wege aufzeigte, wie er seine First-Party-Daten gewinnbringend einsetzen kann: ganz ohne Opt-in, also ohne ausdrückliche Einwilligung der EmpfängerInnen, und dennoch N=1 individualisiert. Zwei Argumente, die zusammen den USP von Programmatic Printing bilden. Denn an Briefkästen darf mit Erlaubnis des Gesetzgebers auch ohne ausdrückliche Einwilligung aus den jeweiligen Haushalten Werbung versandt werden.
Die Möglichkeit, datenschutzkonform und personalisiert mit dem hohen Aufmerksamkeitsfaktor von Print zu werben, überzeugte Stefanowski und so begann das Marketing von Seventyseven seine Kommunikationskampagnen erstmalig um Druckerzeugnisse zu ergänzen. Statt einer reinen Fokussierung auf Third-Party-Daten baute der Online-Shop fortan auch auf seine First-Party-Daten, einem bis dahin in den Tiefen seiner IT-Systeme versteckten Schatz, den er zusammen mit Smartcom innerhalb von nur zweieinhalb Monaten hob. Der Ertrag: Seventyseven konnte seine Cost per Order (CPO) um 74 Prozent gegenüber der bisher eingesetzten Online-Werbung senken und die Konversionsrate bei Warenkorbreaktivierungen beträgt sensationelle 21,1 Prozent.
Wie also baut sich die bis heute bestehende Trigger-Kampagne für Warenkorbabbrüche auf? Bis zwei Tage nach dem Warenkorbabbruch haben die KundInnen Zeit, ihren Kauf doch noch abzuschließen. Dann greift der Kampagnenstart: Für die entsprechenden UserInnen werden täglich via Programmatic Printing hochgradig individualisierte Direct Mailings automatisiert erzeugt und 24 Stunden später bei der Post aufgeliefert. Der technische Ablauf ist bei diesem Case dabei folgender: Dank einer Schnittstelle können Kunden- und Produktdaten direkt an den Dienstleister übertragen und in dessen Prozesslösung verarbeitet werden. Die Produktbilder sowie die Informationen zu abgebrochenen Warenkörben werden direkt aus dem Onlineshop übertragen. Eine auf Bestandskundenverhalten spezialisierte Recommendation Engine für Print errechnet zusätzlich weitere Next Best Offers auf Basis der Kaufhistorie.
Viele Retouren = keine individualisierten Printmailings
Mit einer RFM-Analyse, also einem Scoringverfahren, welches unter vielen anderen Aspekten auch das Retourenverhalten der BestandskundInnen herausdestillieren kann, werden Serien-RetourniererInnen nach festgelegten Kriterien identifiziert. Ist die Retouren-Quote zu hoch, nicht nur mengen-, sondern auch umsatzmäßig, erhalten diese kein Printmailing. Der Einsatz wäre wenig aussichtsreich, weshalb sich die Printmailings auf VielkäuferInnen und Wenig-RetourniererInnen konzentriert. Einmal gestartet, ist die Kampagne dann ein Selbstläufer: Einzig die Moodbilder werden zum Wechsel der Jahreszeiten ausgetauscht, alles andere läuft von selbst. Das heißt: täglich automatisiert 500 bis 2.500 Warenkorbabbrecher-Mailings per Post in die Briefkästen. Die Umsetzung in Sachen Individualisierung geht sogar noch einige Schritte weiter als bisher beschrieben: Neben einem personalisierten DIN-A4-Anschreiben mit dem stehengelassenen Produkt als dezent platziertem Aufhänger sowie einem weiteren von der KI ausgewählten Angebot, enthalten die Mailings auch kundenwertgetriebene Incentives (wahlweise Rabatte von zehn bzw. zwanzig Prozent oder Free Shipping). Mit einer geschlechterspezifischen Ansprache durch Stimmungsbilder und Personenabbildungen schaffen die kuvertierten Mailings eine beträchtliche Nähe zu den EmpfängerInnen. Ein zusätzlicher Flyer mit acht weiteren KI-basierten Empfehlungen (Cross- und Upselling) verschiedener Outfits rundet das Mailing ab. Getrackt werden können die Einkäufe mithilfe von personalisierten QR-Codes, welche auch für ein aussagekräftiges Reporting genutzt werden können.
Neuer Werbeträger, gleiche Kampagne
Seit eineinhalb Jahren setzt Seventyseven auf die Warenkorbabbrecher-Kampagne per Programmatic Printing. Die erwähnten stark gesunkenen CPO-Werte im Vergleich zu Online-Werbung sowie die Konversionsraten von durchschnittlich über zwanzig Prozent stimmen COO Stefanowski freudig: "Die Zusammenarbeit in der Konstellation zwischen Seventyseven, Smartcom und der D&G hat uns einen extremen Push in der Reduzierung unserer Werbekosten gegeben. Gerade in der jetzigen Zeit, wo Werbung von Tag zu Tag teurer wird, ist es wichtig, die vorhandenen Informationen, die wir von unseren KundInnen haben, zu nutzen und sie damit immer wieder zu einem weiteren Kauf zu animieren. Das ist uns in den letzten Monaten sehr erfolgreich gelungen. Wir sehen noch sehr viele Potenziale und weitere Ansatzpunkte." Erst kürzlich startete Stefanowski für Seventyseven das Austesten anderer Werbemittelträger: Die Trigger-Kampagne zur Reaktivierung von Warenkorbabbrüchen erhält somit selbst ein neues Outfit. Der programmatische Kampagnenmechanismus bleibt gleich, nur das Werbemedium wird ersetzt. Das bisherige Anschreiben mit Flyer im Kuvert wird durch das Format des Selfmailers abgelöst - einem Wickelfalzflyer mit sechs KI-basierten Empfehlungen. Zeitgleich wird die Gesamtsumme der täglichen Aussendungen von bisher täglich ca. 7.000 auf gut 10.500 individualisierte Mailings erhöht, denn Seventyseven kombiniert seit Beginn der Werbemittelproduktion mit Programmatic Printing die beschriebene Trigger-Kampagne zum Warenkorbabbruch mit einer weiteren Kampagne zur Reaktivierung von Bestandskunden. Dies findet aus praktischen Gründen statt: Die Post bietet ab 5.000 Sendungen den preiswerteren Versand per Dialogpost an, durch das Auffüllen der 500 bis 2.500 Warenkorbabbruch-Mailings werden sie kostengünstig zusammen mit den "regulären" Reaktivierungsmailings versendet.
Der Grund für den Wechsel von kuvertiertem Mailing zum Selfmailer liegt auf der Hand: Tomasz Stefanowski möchte erfahren, ob sich die gleiche Conversion Rate wie mit dem bisherigen Werbemittelträger erreichen lässt, aber mit geringerem monetärem Aufwand. Ferner möchte er verproben, ob der Selfmailer ein geeignetes Werbemittel darstellt, um weniger wertige Kundengruppen aus dem Scoring-Modell anzuschreiben und deren Kosten-Nutzen-Verhältnis perfekt auszutarieren. Bestätigt sich seine Vermutung, wirken sich die Innovationen innerhalb der Warenkorbabbruch-Kampagne sowie derjenigen zur Reaktivierung von Bestandskunden wiederum positiv auf den Return on Marketing Invest des Unternehmens aus.
Das jüngste Programmatic-Printing-Projekt von Seventyseven sieht individualisierte Paketbeilagen vor, mit denen die AdressatInnen namentlich angesprochen werden, um ihnen elf komplette Outfits vorzustellen. Erstellt werden die Empfehlungen mit einer auf Print spezialisierten Recommendation Engine von Smartcom.
Bild: Smartcom
Stefanowski startete kürzlich noch ein weiteres Pilotprojekt mit Programmatic Printing: In der Logistik von Seventyseven wird derzeit der Einsatz von ausgedruckten, maßgeschneiderten Paketbeilagen mit Perfect Matches zum bestellten Artikel ausprobiert. Die namentlich angesprochenen KundInnen bekommen auf der Paketbeilage elf Outfits angezeigt, errechnet von der Recommendation Engine von Smartcom. Diese sollen nicht nur zu weiteren Käufen inspirieren, sondern die Unboxing-Erlebnisse der EmpfängerInnen sollen auch die emotionale Bindung zur Marke Seventyseven stärken. Der Clou? Es entstehen keine weiteren Portokosten, das Paket wird ohnehin verschickt. "Programmatic Printing funktioniert hervorragend", sagt Johannes van de Loo, General Manager und Individualisierungs-Experte von Smartcom, und ergänzt: "Aber es gibt natürlich immer Stellschrauben für Optimierungen, die es in Zusammenarbeit mit unseren Kunden - in diesem Fall Seventyseven - mit unserer Beratungskompetenz und unserem Know-how zu finden gilt."