Denkt ein Onlinehändler an einen Kanal für individualisierte, programmatisch ausgesteuerte Werbung, dann dürfte den meisten Print wohl als letztes einfallen. Internetanwendungen, Social Media, Smartphone- und Web-Apps - klar! Diese Systeme arbeiten in Echtzeit, können Interaktionen verarbeiten und Inhalte dynamisch ausspielen. Verglichen damit ist schon eine E-Mail ein nahezu altmodisches, weil statisches Medium. Aber an Print ist gar nicht zu denken - mag es noch so aufmerksamkeitsstark, wertig und inspirativ sein.
Alles nur Vorurteile, meint Smartcom-Chef Johannes van de Loo: "Print kann viel mehr und ist in der Lage, gerade für einen Online Pureplayer zum ,Perfect Match' für seine digitalen Kanäle zu werden."
Seventyseven - eine digitale Erfolgsgeschichte
Wie das funktionieren kann, zeigt der Programmatic-Printing-Pionier, dessen Agentur ganz auf die Entwicklung, Umsetzung und Ausführung von Digitaldruck-Kampagnen spezialisiert ist, am Beispiel einer Kampagne, die er mit und für den Online-Shop
Seventyseven
konzipiert hat. Dabei handelt es sich um einen 100%-Online-Pureplayer, der seit 2010 vom Modehändler Styleboom Textilhandels GmbH aus Nordrheinwestfalen betrieben wird. Die Idee: Urban Street Wear, vermarktet und präsentiert in kompletten Outfits. Positioniert für junge Zielgruppen zwischen 20 und 30 Jahre. Gemacht für Leute, die auf Top-Brands verzichten können, aber nicht auf Top-Preise und Top-Qualität.
Zwar kann bei Seventyseven jedes Stück einzeln gekauft und beliebig kombiniert werden. Präsentiert und vermarktet werden die Textilien jedoch vorwiegend als Outfits. So wird den Kunden die Kaufentscheidung leichtgemacht (und die Warenkorbgröße gehoben). Eine hochmoderne, vollständig automatisierte Logistik, eine schlanke Organisation und das hocheffiziente, rein digitale Marketing sorgen für günstige Preise. Mit diesem Konzept konnte Seventyseven in den vergangenen zwölf Jahren auf inzwischen mehr als 3,5 Millionen KundInnen wachsen und ist zu einer digitalen Erfolgsgeschichte aus Deutschland geworden, die die komplette digitale Klaviatur von Instagram, Facebook über Amazon sowie eigenen Android- und iOS-Apps perfekt spielt.
Der Kater nach der 3rd-Party-Data-Party
Aber auch digitale Kanäle kennen Wachstumsgrenzen. Immer mehr Werbekunden haben Social Media inzwischen für sich entdeckt. Die Konkurrenz um die Aufmerksamkeit wächst folglich, während das Nutzerwachstum seinen Zenit überschritten hat. Das alles lässt die Kosten steigen und die Performance sinken. Dazu kommen: Cookie- und Tracking-Regeln, DSGVO, ePrivacy und TTDSG. Kurz: Der Third-Party-Data-Rausch geht dem Ende zu. Nutzerdaten unterliegen immer stärkeren Einschränkungen und auch First-Party-Data bieten oft nicht den gewünschten Ausweg. Denn ohne den obligatorischen Marketing-Consent dürfen auch sie nicht digital genutzt werden. Keine guten Bedingungen für das gewünschte weitere Wachstum bei digitalen Senkrechtstarten wie Seventyseven.
Dabei bringen gerade Shopbetreiber eigentlich sehr gute Voraussetzungen mit.
"Händler sitzen auf einem enorm wertvollen Datenschatz, weil sie über direkte Kundendaten verfügen", weiß van der Loo.
"Name, Adresse, Bestellhistorie, Umsatz, Bonität, Kauffrequenz, Produktvorlieben, stehengelassene Warenkörbe und gemerkte Artikel - über alle diese Informationen verfügen Händler aus erster Hand. Die Kunst besteht darin, diesen Schatz rechtlich einwandfrei zu heben."
Vorsicht, Spoiler: Conversion > 20 Prozent
Zu diesem Zweck entwickelten die beiden Partner eine Warenkorbabbrecher-Kampagne, in der Seventyseven-Kunden hochpersonalisiert per Brief angesprochen werden. Als Auslöser (Trigger) dienen stehen gelassene Warenkörbe von registrierten KundInnen im Online-Shop. Weil für den Postversand keine Marketing-Consent nötig ist, aber von allen registrierten KundInnen eine Anschrift vorliegt, lassen sich 100 Prozent der Zielgruppe erreichen.
Das Mailing selbst besteht aus einem Brief sowie einem Flyer, individualisiert nach Geschlecht und bebildert mit den Produkten aus dem Warenkorb sowie einem weiteren, von einer Recommendation Engine als Next Best Offer ausgewähltem Outfit. Eine in der Höhe individualisierbarer Rabattcode dient als Action-Getter und - genau wie die personalisierten QR-Codes - der exakten Messbarkeit der Aktion.
Aktivieren gemeinsam mehr Kunden: Tomasz Stefanowski, Betriebsleitung Seventyseven (links) und Johannes van de Loo, Smartcom
Bild: Smartcom/Seventyseven
So simpel die Mechanik, so groß der Erfolg: Durchschnittlich 21,1 Prozent der mit einem Print-Mailing bespielten Warenkorbabbrecher konnten seit Kampagnenen-Start in den fortlaufend gemessenen Vierwochen-Zeiträumen reaktiviert werden, gibt Smartcom-Chef van de Loo an. "Nicht immer sind das die Produkte aus dem liegengelassenen Warenkorb, oft auch das Next-best-Offer oder ein anderes Produkt." Das bedeutet: Bei der durchschnittlichen Warenkorbgröße von Seventyseven liegt der Return-on-Advertising-Spend (ROAS) bei 11,35 - ein hervorragender Wert.
Simple Mechanik - aber viel Hirnschmalz
Auch wenn der Kampagnen-Ablauf selbst schnell erzählt ist und simpel funktioniert, ist im Hintergrund eine Menge Know-how nötig, damit alle Räder reibungslos ineinandergreifen. Zunächst galt es, die notwendigen Informationen zu identifizieren. Im beschriebenen Fall sind dies:
- Kunden-Stammdaten: Name, Adresse, Geschlecht, Marketing-Zustimmung
- Kaufhistorie: Vergangene Bestellungen, Retouren, Bonität
- Kaufverhalten: Warenkorb- und Merkzettel-Inhalt, Kanal-Präferenzen
- Produktdaten: Produktbeschreibung und -bilder, Warenverfügbarkeit, Komplementär-Artikel, Verfallsdaten und Saisonalität.
Im nächsten Schritt analysierte Smartcom, wie und wo diese Daten im Unternehmen vorliegen und auf welche Weise sie übermittelt werden können. Dabei verfolgt van de Loo einen pragmatischen Ansatz: "Nach unserer Erfahrung hilft es selten, wenn erst große Software-Investitionen vorgenommen werden müssen. Wir versuchen, die Daten aus der bestehenden Infrastruktur abzuleiten."
Im vorliegenden Fall hieß das:
- Shopsystem und
- Warenwirtschaft
Ein CRM oder eine Marktingsoftware, die oft als Minimalvoraussetzung gefordert werden, stand nicht zur Verfügung. Auch wurden die relevanten Produkt- und Unternehmensdaten nicht in dedizierter Software (ERP, PIM oder DAM) verwaltet.
"Shop und Warenwarenwirtschaft waren unsere Kernsysteme - und diesen konnten wir auch alle relevanten Informationen entnehmen, ohne Kompromisse bei den Kampagnen-Ergebnissen eingehen zu müssen", sagt van de Loo. Für Seventyseven bedeutete dies: Minimale Software-Investitionen, sowie eine kurze Umsetzungsdauer, die den laufenden Betrieb zudem nicht tangierte.
Bild: Seventyseven/Smartcom
| Für jeden ein anderes Outfit: Die Visualisierung in der Smartphone-App zeigt das Produkt, das im Warenkorb "liegengelassen" wurde. Daneben gibt es Next-Best-Offers, die automatisch berechnet wurden. Das Rezept hat Erfolg - Conversionsrate liegt bei mehr als 20 Prozent! |
Daten finden, Daten aufbereiten, Daten nutzen
Der Datenkonsolidierung folgt eine erste Analyse: Welche KundInnen sind überhaupt in der Datenbank? Werden sich die Marketingausgaben lohnen? Dazu eignet sich ein Score-Modell wie die RFM-Analyse. Dabei werden die KundInnen in einer dreidimensionalen Matrix nach den Kriterien Aktualität ("Recenty"), Kaufrequenz ("Frequency") und Umsatz ("Monetary") segmentiert und in den Kategorien: Top, aktiv, wachsend, schwankend, gefährdet, inaktiv und Flop zugewiesen. Jede Kategorie kann anschließend gezielt angesprochen werden.
Beispielsweise:
- Top-KundInnen erhalten Inspiration, Anregung und VIP-Aufmerksamkeit (Events, exklusive Angebote etc.) - aber keine Marketing-Euros!
- WachstumskundInnen benötigen einen Anreiz und erhalten Incentives. Sie bekommen relevante Hinweise ( "Komplettiere deinen Look") gepaart mit einem interessanten Angebot (zum Beispiel passendes Accessoire als Geschenk beim Kauf von zwei Artikeln)
- Inaktive KundInnen werden mit Incentive (zum Beispiel Rabattcode) darauf getestet, ob sie überhaupt noch zu aktivieren sind.
Nach dieser grundlegenden Auswahl geht es an die Kampagnen-Individualisierung, bei der zunächst die für die KundInnen relevanten Inhalte bestimmt werden. Smartcom unterscheidet dabei zwei Ebenen:
- Bei der Makro-Ebene wird zum Beispiel nach Geschlecht unterschieden. Brief und Flyer sind hinsichtlich Bildsprache und Text für Frauen und Männer unterschiedlich gestaltet, der persönliche Stilberater (der jeden Brief "eigenhändig" unterzeichnet) ist entsprechend ausgewählt.
- Auf der Mikro-Ebene werden die präsentierten Produkte und die Art des Incentives ausgewählt. Dazu dient neben der Warenkorb- und der Merkzettel-Information auch das bisherige Einkaufverhalten. Smartcom hat dazu eine eigene, für die Printbedürfnisse optimierte Recommendation Engine entwickelt.
"Die verfügbaren Systeme für Online-Shops sind stark auf den Live-Einsatz optimiert", erklärt van de Loo den Hintergrund.
"Wir benötigen aber einen größeren Vektor, um nachhaltig relevante und inspirierende Artikel zu wählen." Kann die Engine mangels Daten oder mangels Warenverfügbarkeit keine betriebswirtschaftlich sinnvollen Vorschläge machen, greift sie als Fallback-Lösung auf Topseller zurück.
Zuletzt greift im Kampagnenprozess noch ein Filter mit Black- und Whitelisting-Möglichkeit, um eine manuelle Eingriffsmöglichkeit zu bieten.
Die Mechanik einer Kampagne für Warenkorbabbrecher ist erfreulich simpel - der dahinterliegende Aufwand hat es dann doch in sich: Datenanalyse, Datenintegration, Automatisierungs- und Individualisierungsregeln, Kostenoptimierung bei Produktion und Versand sowie schließlich ein kluges Reporting wollen bedacht sein.
Medienneutrale Automatisierung
Der Output dieses Individualisierungsprozesses besteht in einem Datensatz, der sich sowohl für Print- als auch E-Mail (oder andere Kanäle) nutzen lässt und so ein kanalübergreifend konsistentes Nutzererlebnis gewährt. Bewährt hat sich eine Weiche, die prüft, ob für die Empfänger-Adresse eine gültige Marketing-Einwilligung vorliegt. Bei positivem Resultat wird zuerst eine E-Mail generiert und erst bei ausbleibender Reaktion per Brief nachgefasst.
Liegt hingegen keine Einwilligung vor, geht der Datensatz direkt an den Lettershop, der das Printmailing erzeugt. Seventyseven nutzt dazu ein universell einsetzbares Layout. Von Vorteil ist dabei, dass es wegen der Kacheldarstellung in der Smartphone-App ohnehin ein einheitliches Bildformat gibt, dass auch im Print-Layout genutzt werden kann. Aber auch eine flexible Gestaltung wäre möglich: In anderen Cases arbeitet Smartcom mit wechselnden Bildformaten und bestückt selbst ganze Kataloge mit einem automatisierten Layout.
Kampagne optimiert die Portokosten selbst
Im letzten Schritt werden im Lettershop täglich die Print-Mailings bestehend aus A4-Anschreiben und Flyer individuell gedruckt und präzise gepaart. Unangetastet bleibt - von der Adressierung abgesehen - einzig das Kuvert.
"Ein neutraler Briefumschlag sorgt für eine konstant hohe Öffnungsrate", verrät van de Loo.
"Das ist der erste Schritt zu einer hohen Conversion."
Aber noch eine Optimierung hat sich der Programmatic-Printing-Experte ausgedacht: Täglich werden 7.000 Mailings verschickt, um eine optimale Versandmenge zu erreichen und die Portostaffel von 5.000 Stück auszuschöpfen. Aber natürlich lässt sich die Zahl der täglichen Warenkorbabbrecher nicht genau vorhersagen. Deswegen nutzt der Dienstleister eine zweite Kampagne zur Bestandskunden-Reaktivierung. Die passenden KundInnen werden per RFM-Analyse identifiziert und die Reaktivierungs-Mailings fahren immer kostengünstig im "Kampagnen-Omnibus" mit, wenn Plätze frei sind und füllen die Lücke zu den 7.000 Mailings. "Auch diese Kampagne haben wir gut optimiert und kommen auf eine Conversion-Rate von 6,73 Prozent", freut sich van de Loo.
Umsetzungsdauer? 10 Wochen!
Warum van de Loo gerade auf diese Kampagne besonders stolz ist?
"Mit Seventyseven haben wir den perfekten Match aus E-Mail und Print hinbekommen", sagt der Agentur-Chef.
"Wir haben gezeigt, wie ein Internet-Pureplayer mittels Programmatic Printing außerordentliches Wachstum erzielen kann. Vor allem aber, wie er eine strategische Herausforderung löst, vor der heute viele digitale Händler stehen: Der Hebung ihres 1st-Party-Datenschatzes!"
Und das alles mit einer äußerst schlanken Anwendung. Denn die gesamte Projektdauer betrug gerade einmal 10 Wochen und erforderte kaum Eingriffe in die IT-Infrastruktur. Der Schlüssel für den Erfolg?
"Pragmatische Lösungen suchen und die Daten dort entnehmen, wo sie liegen, statt Software-Investitionen für überperfekte Lösungen einzufordern". Ein Weg, der sich schnell auszahlt. Wenn man weiß, wie es geht.