1968 prägte Andy Warhol die These, nach der künftig jeder 15 Minutes of Fame erleben würde. Meine Viertelstunde Bekanntheit startete für mich relativ überraschend Ende 2016. Ich war leitender Stratege bei einer großen Berliner Agentur und bloggte privat darüber, dass ich der Meinung bin, dass Marken weniger Geld in die Feinde der Demokratie investieren sollten. Ich beschäftigte mich seinerzeit viel mit der Neuen Rechten in den USA und stellte frustriert fest, dass es kaum eine große Marke gab, die nicht aktiv Banner auf rechtspopulistischen und rechtsradikalen Websites postete. Zynisch? Mit Sicherheit. Aber damals heiligte der Klick definitiv noch die Platzierung.
Nachdem ich über diesen unhaltbaren Zustand bloggte und LeserInnen mit dem Hashtag #KeinGeldFürRechts aufforderte, Marketingverantwortliche mal zu fragen, ob sie wüssten, wo sie Paid Media ausspielen, bekam ich dafür viel Zustimmung - und dann eben auch viel Hass. Wochenlang zerrte mich und meinen Arbeitgeber ein virtueller Mob durchs Netz. Ziel: Klassische Cancel Culture. Dutzende Morddrohungen gegen mich und eine Morddrohung später war dies für mich auch der Beginn, neu über Marken mit Haltung nachzudenken.
Dieses Umdenken war nicht nur dadurch begründet, dass ich selbst Teil eines veritablen Shitstorms gewesen war. Ich hatte auch vorher, in meiner Rolle als Stratege, die Zunahme an Reputationsangriffen auf Marken aus dem Netz beigewohnt und sie teilweise aus der KundInnenbrille selbst miterlebt. Durch eine immer toxischer agierende, oft gut organisierte Hassindustrie in Social Networks steigerte sich die Aggressivität auch gegenüber Marken. Gut vernetzte InfluencerInnen lernten nun, wie man Marken in Echtzeit an die Wand stellte. Gleich, ob diese Statements für Geflüchtete oder Respekt vor der LGBTQ+ Community ausdrückten: Jedes inklusive Statement für eine progressivere Gesellschaft galt es zu bekämpfen. Und vermeintlich unpolitische Marken standen plötzlich im Fadenkreuz.
Marken in der Purpose-Falle
Unternehmen sollten sich nicht nur nach Profiten strecken sondern auch einen sozialen Zweck verkörpern. Das ist der Kern der Purpose-Denke, die im strategischen Marketing und der Markenführung in den letzten 10 Jahren an Bedeutung gewann. Der Gedanke ist grundrichtig: Dort, wo uns die vielen Herausforderungen unserer vernetzten Welt eine neue, nachhaltige Denke abfordern, kann das auch Marken selbst nicht kalt lassen. Moderne Organisationen geben sich deshalb meist schon in ihrem Markenmodell einen gesellschaftlichen Auftrag, der ganzheitlich wirken soll. Und das jenseits von reinem Profitstreben, wenn auch nicht ganz ohne Eigennutz. Denn gerade gegenüber den immer kompetitiver umworbenen möglichen Angestellten der Gen Z ist positiver sozialer Wandel ein zentrales Kriterium für den Nachwuchs von Heute und Morgen.
Leider liegen bei den meisten Marken Wunsch und Wirklichkeit wertegetriebener Markenführung meilenweit auseinander. Der Grund dafür ist simpel: Es fehlt an taktischen Werkzeugen, an Erfahrung und teilweise auch an resilienten Führungsstrukturen bei den Unternehmen. Das mindert die Lust von Unternehmen, sich in irgendeiner Weise für soziale Ziele einzusetzen. Denn wer will schon Ärger als Marke, die im Zweifel doch lieber Profiten als Werten hinterherjagt. Aber an Entrinnen ist nicht zu denken. Unpolitisch sein ist heute unmöglich. So ist in den USA die Anzahl an aktivistisch-politisch motivierten Anfragen und Eingaben von AktionärInnen in die Höhe geschnellt, gleich ob eine dedizierte Haltungsstrategie existiert oder nicht. Hauptversammlungen werden zunehmend zu regelrechten Kultur-Schlachtfeldern, in denen gut vernetzte AktivistInnen Marken unter Druck setzen - oft wegen ihres Marketings:
"Unternehmen sehen sich mit Vorschlägen von beiden Seiten des politischen Spektrums konfrontiert, die sie in die immer heftiger werdenden Diskussionen über ökologische, soziale und Governance-Fragen hineinziehen", schreibt das Wall Street Journal.
Gerade in den USA hätte infolge des George Floyd Mordes das Anmahnen von Rassismus und Ungleichheit zunächst einen Höhepunkt des Haltungsmarketings bei Brands ausgelöst. Doch Diskurse sind dynamisch, und progressive von Marken verwässerten ihre oft klar formulierte Haltung nach Gegenwind aus der rechten Ecke immer mehr. Marketing-EntscheiderInnen lernten, dass echte Haltung echten Aufwand verursacht. Und wer als soziale Brand seine Rolle nicht durchhalten kann, verliert nicht nur seine Glaubwürdigkeit sondern auch Reputation und Marktanteile. Für viele Marken ein Teufelskreis, denn "Marken können den Kulturkampf nicht aussitzen - ob sie wollen oder nicht." (Wall Street Journal)
Wie Sie resilientere Marken schaffen
In einer Welt mit so vielen großen und kleinen Problemen braucht es zweifellos mehr Marken, die wissen, wo sie stehen. Vom Klimawandel bis zur Frage nachhaltiger Lieferketten, vom Ukrainekrieg bis zu gleichen Karrierechancen und gleicher Entlohnung für Mann und Frau: Es gibt viel zu tun und starke Marken handeln in dieser Welt. Die Idee, dass Brands als "gute Nachbarn" derer handeln müssen, von denen sie profitieren, ist kein neuer Gedanke. Aber dass es für mehr Marken-Resilienz mehr braucht als positive Energie und tolle PR-Texte, mussten viele Unternehmen in den letzten Jahren schmerzhaft lernen.
Aber was brauchen Marken konkret, um Haltung für sich zu definieren und im Zweifelsfalls auch durchhalten zu können? Meiner Ansicht nach braucht es vor allem zwei Dinge: 1. Wertegeleitete Marken- und Content-Strategie, 2. die notwendigen Tools und Strukturen, um sich im Zweifel schnell gegen Krisen wehren zu können.
1) Wertegeleitete Marken-Purpose-Strategie
Ein aus der Marke entwickelter und in ihr lebender sozialer Zweck. Der Brand Purpose ist eine Rolle, die die Marke gesellschaftlich spielen will und kann. Der Brand Purpose stützt die Markenvision schafft zusammen mit den wirtschaftlichen Zielen eine klare Aufgabe für die Marke nach innen, nach außen und nach vorne.
Abgeleitet aus der Markenpositionierung muss Ihre Brand Story und Content-Strategie die Haltung der Organisation praktisch erlebbar machen. Hier gilt es Themen, Inhalte und Touchpoints zu definieren und die eigene Rolle in der Welt zu erklären. Achtung: Sie müssen nicht zwingend die Welt retten. Haltung für sich definieren und konkret ausdrücken bedeutet meist, dass die Welt vor der eigenen Haustür etwas besser gemacht wird. Gleich ob wir über den Gender Pay-Gap oder barrierefreiere Gebäude geht: Zu tun gibt es genug.
2) Tools und Strukturen
Werte, die sich eine Organisation gibt, müssen im Zweifel auch verteidigt werden. Nichts sieht schlechter aus als eine Marke, die sich ein inklusives Thema auf die Fahne schreibt, und dann beim ersten Gegenwind einknickt. Markenresilienz ist die Fähigkeit, souverän aus einem Content-Angriff herauszugehen, weil man sich als Organisation wertegetrieben behaupten konnte. Um Markenresilienz zu schaffen, braucht es vorbereitete Teams, Strukturen und Prozesse, die den Eventualfall trainiert haben. Nur mit aktiven Fähigkeiten zum Vordenken von Krisen und zum Durchstehen von Haltungsstrategien ist Purpose praktisch umsetzbar. Dazu braucht es z.B. in Social Media und Content Teams Wissen um eigene Schwachpunkte, Freigabestrukturen für den Krisenfall und Trainings - zum Beispiel im Rahmen von Simulationen und Planspielen. Ziel: Die Veränderung der Organisation hin zu einer resilienteren, wertegetriebenen Marke.
Fazit: Resilienz muss von Marken erworben werden
Viele Herausforderungen stehen vor unserer Welt. Marken mit Haltung spielen eine bedeutende Rolle dabei, diese Herausforderungen im Rahmen eines inklusiven, progressiven Gemeinwesens zu bewältigen. Aber: Haltung verpflichtet. Wer als Organisation eine soziale Rolle für sich beansprucht, braucht Fähigkeiten, um diese gesellschaftliche Positionierung durchhalten zu können. Content-Angriffe auf Marken finden immer breitere Anwendung und steigern sich kontinuierlich in ihrer Aggressivität.
Organisationen, die ihre wertegeleitete Positionierung finden und durchhalten wollen, sollten deshalb in eine klare Strategie und ihre Operationalisierung investieren, bevor die Echtzeit-Krise eintritt. Eine klare Strategie, schnelle und effiziente Führung sowie geschulte Teams mit den passenden Tools und Analyse-Fähigkeiten sind ein entscheidender Schlüssel, dass aus den viel zitierten "Marken mit Haltung" mehr wird als nur eine schöne PR-Story. "Marken mit Haltung" sind ein weiterer wichtiger Baustein in einer Welt, die mehr und mehr nachhaltig denken muss.
Gerald Hensel
Bild: Saskia Uppenkamp
ONEtoONE-Autor Gerald Hensel ist Managing Partner der Marketing Beratung Superspring
. In dieser Rolle hat er über 25 Jahre Marketing-Erfahrung in internationalen Agenturen, Startups und Unternehmensberatungen. Zusätzlich ist Hensel Co-Gründer von Deutschlands größter und erfolgreichster Nichtregierungsorganisation gegen Gewalt im Netz, HateAid gGmbH. Hensel hat selbst intensiv Erfahrung mit Hass im Netz machen müssen und berät Individuen und Organisationen seit Jahren beim Managen von Echtzeit-Reputationsrisiken, Shitstorms und organisiertem Hass. Dabei verknüpft er grundsätzliche strategische Beratung mit konkreten prozessualen Consultingansätzen und der Simulation von Krisenfällen.