Wo sich Marketer und Agentur missverstehen

18.07.2019 - Die Halbwertszeit von Onlinemarketing-Begriffen ist kurz. Ständig ploppen neue Buzzwords auf, etablierte Kategorien verändern ihre Bedeutung. Sieben Fachbegriffe, die fast jeder anders verwendet.

von Sebastian Halm

Marketingbegriffe scheinen vollkommen unterschiedliche Bedeutungen zu haben, je nachdem, wer darüber redet.

1. "SEO"

  • Was manch Marketer darunter versteht: "Ich will bei Google ganz nach oben!"
  • Was der Oldschool-SEO darunter versteht: "h2, no follow, canonical tag."
  • Was der SEO darunter versteht: "Wir bauen eine im Web kanalübergreifend sichtbare Online-Marke auf."

Auf die Frage, was SEO tatsächlich ist, findet man in Blogs, Foren, auf Konferenzen und in Facebook-Gruppen ein Spektrum an Antworten: An einem Ende steht das Postulat, dass SEO das ist, was es immer war: Technische Optimierung von Webtexten, Usability und Ladezeiten. Am anderen Ende steht der SEO, der sich als Dienstleister für Marketingstrategien versteht. Was stimmt nun? Die Antwort hängt ebenso vom Unternehmen ab: Der eine spricht von komplexen Strategien, die es noch zu verbessern gilt - der andere hätte erstmal gerne eine technisch saubere Informationsarchitektur. Tatsächlich ist das eine Voraussetzung für das andere. Gute SEOs sind vor allem: Sichtbarkeitsstrategen.

2. "KI"

  • Was manch Marketer darunter versteht: "Nehmen Sie meine Daten und minimieren Sie meine Marketing-Streuverluste!"
  • Was der seriöse KI-Dienstleister darunter versteht: "Haben Sie auch irgendwelche brauchbaren Daten?"

Tatsächlich ist das Hauptproblem bei Algorithmen-gestütztem Data-Marketing, dass die Datenqualität in den meisten Unternehmen eher so mittel ist und vielerorts der Marketer nicht definieren kann, was denn das "Normale" ist, von dem die Software die sich ändernden Muster herausfinden will. Und das Versprechen des Maschinenlernens ist gegenwärtig vor allem eines: ein Versprechen. Marketer sind gut beraten, mit Dienstleistern statt über "KI" über "Daten" und "Algorithmen" zu sprechen. Das erdet, dämpft Erwartungen und klärt, worüber tatsächlich zu sprechen ist.

3. "Content-Marketing"

  • Was manch Marketer darunter versteht: "Mein Produkt ist der Content!"
  • Was die Agentur darunter versteht: "Sind Sie in der Lage, ihre Marke hinten an zu stellen?"

Es gibt substanzielle Unterschiede zwischen einer als Content-Marketing bezeichneten Werbung und echtem Content-Marketing. Im Zweifelsfall müssen Marketer nur an den Klassiker des Content-Marketings denken, den Michelin Reiseführer, der alles vormacht, was Content-Marketing sein sollte: Das Produkt tritt bis zur Unsichtbarkeit in den Hintergrund (Reifen), es gibt einen beinharten Service-Wert (Straßenkarten und Reiseinfos) und das Content-Marketing schafft aus sich heraus die Nachfrage für das Produkt (Wer von Restaurant zu Restaurant fährt, braucht öfter neue Reifen). Alles andere ist Werbung.

4. "Multi-/Crosschannel"

  • Was manch Marketer darunter versteht: "Ich will auch bei Amazon Marketplace verkaufen."

Das grundliegende Missverständnis tritt sowohl im E-Commerce als auch beim Multichannel-Marketing auf. Knackpunkt ist eine Verwechslung: Multichannel ist Handel oder Werbung auf mehreren Kanälen, Crosschannel oder Crossmedia beschreibt verschiedene aufeinander abgestimmte und verzahnte Kanäle. "Omnichannel" ist der Begriff in Beratersprech.

5. "Marketingautomation"

  • Was der Newsletter-Verantwortliche darunter versteht: "Wenn jemand bei uns etwas bestellt, bekommt er eine Bestätigungsmail!"
  • Was die ECommerce-Agentur darunter versteht: Chatbots

Der Begriff wird von allen Beteiligten höchst unterschiedlich und subjektiv verwendet: Der eine begreift Marketing-Automation als kanalbezogenen Status ("Unsere Mail ist automatisiert"), der andere als ganzheitlichen Zustand ("Mein Kunde ist zu 30 Prozent automatisiert"). Marketing-Automation scheitert häufig nicht an der technischen Machbarkeit. Je komplexer ein Unternehmen Geschäftsmodelle und Marketingszenarien aus seinen Daten baut, desto schwieriger wird die Marketing-Automation. Die Zahl der Datensilos macht die Marketing­automation ebenso komplex wie komplizierte interne Prozesse.

Als erster Schritt für alle Beteiligten ist es auch hier sinnvoll, sich erstmal darüber einig zu werden, worüber man bei Marketingautomation spricht. Wenn das Mailingprogramm selbstständig Transaktionsmails verschickt, ist das zwar viel wert - aber keine Marketing-Automation. Die ist vielmehr eine Kombination von automatisiertem, softwarebasierten Marketing, Real-Time-Advertising und Programmatic Buying: Technisch betrachtet handelt es sich immer um 1:1-Kommunikation. Anstatt eine Marketingentscheidung zu treffen ("Unter allen Kontakten möglichst viele Neukunden mittels eines Gewinnspiels qualifizieren"), lassen sich die Entscheidungen granularisieren. Für jeden Werbemittelkontakt wird eine Einzelentscheidung getroffen: Ist dieser Werbemittelkontakt für die Neukundenkampagne attraktiv? Wenn ja: Bis zu welchem Budget? Wenn nein: Soll die Altkunden-Reaktivierungskampagne ausgespielt werden?

6. "Storytelling"

  • Was Werber darunter verstehen: "Unser neuer Werbespot hat einen Plot: Jemand geht in den Supermarkt und kauft das Produkt. Cool, häh?"
  • Was die Marke darunter versteht: "Wir kaufen uns bei Galileo ein und lassen die zeigen, wie unser Produkt entsteht."

Wenn man Storytelling eins zu eins übersetzt, landet man beim Geschichtenerzählen und das wiederum begreifen viele Werber und Marken als den Kern von Storytelling - sie meinen das, was man gemeinhin Plot nennt. Tatsächlich sollte Storytelling mehr sein: Unternehmen präsentieren nicht nur nüchterne Fakten, sie wecken mit interessanten Geschichten zum Thema das Interesse. Dabei steht eben nicht Marke oder Angebot im Vordergrund. Statt dessen geht es darum, positive Botschaften durch ansprechende und oftmals unterhaltsame Inhalte zu vermitteln. Wenn ein Autohersteller einen Blogger mit seinem Auto auf Weltreise schickt und dieser darüber schreibt, dann steht eben die Weltreise im Vordergrund - und nicht das Auto. Selbst wenn es in der Story stattfindet.

7. "Digitale Transformation"

  • Was der Händler darunter versteht: "Onlineshop aufmachen."
  • Was der Marketer darunter versteht: "Onlinewerbung machen."
  • Was die Angestellten darunter verstehen: "Jetzt wird von Excel und Word auf die neue Cloudlösung umgestellt. Nach ein paar Wochen wird zur Nutzung von Excel und Word in der Schatten-IT zurückgekehrt. Ist nicht so kompliziert."

Das "digital" in "Digitale Transformation" ist der falsche Begriff. "Internetgetrieben" ist präziser. Schließlich geht es nicht um das Umstellen von Papierlisten auf Excel. Doch auch der Begriff "Transformation" ist eher halbgut. Transformation (vom lateinischen transformare für umformen) beschreibt ja einen linearen Prozess: Man verpuppe sie mithilfe von hochgescheiten Beratern, aufgeweckten Agenturleuten und überzeugenden Consultants und - voilà, nach einem gerüttelt Maß an Tagessätzen schlüpft heraus ein wunderschöner agiler und digitaler Schmetterling.

Hinter diesem ganzen Ansatz der "Digitalen Transformation" steckt also die Idee, dass es einen definierten Anfangspunkt gibt und ebenso einen definierten Endpunkt. Und dieser Weg von A nach B wird über einen klar definierten Prozessverlauf abgewickelt. Was natürlich nicht stimmt: Es ist ein kontinuierlicher Prozess, der (einmal begonnen) nie mehr endet. Zu allem Überfluss sprechen die Beteiligten über eine von vier unterschiedliche Prozess-Arten, die sich vor allem in der Tiefe der Veränderung unterscheiden:
  • Ein bestehender Geschäftsprozess wird erstmals digital modelliert.
  • Ein bestehender Geschäftsprozess wird (digital) optimiert.
  • Ein bestehendes Geschäftsmodell wird transformiert.
  • Ein komplett neuer Geschäftsprozess entsteht.
Auch hier gilt: Erst klären, worüber man spricht. Das spart Zeit und Tagessätze.

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